Grim
kamen Menschen aus den Beh ausungen, Männer in abgerissenen Jogginghosen, Frauen in langen Röcken und Kinder, deren Gesichter schmutzig waren und deren Augen Mia an die Augen der Feen erinnerten, die nichts spiegelten. Doch der erste Blick täuschte: Die Augen dieser Kinder spiegelten alles, die ganze Welt – und dadurch gleichzeitig nichts.
Ein älterer Mann mit ungepflegtem Bart und wilden grauen Augen trat aus der Menge und starrte zu ihnen herüber. Er hielt Abstand, als wüsste er, mit wem er es zu tun hatte, doch in seinem Blick stand keine Furcht. Trotz und unverhohlener Zorn flammten darin, als er Lyskian ansah, und obwohl Mia wusste, dass der Vampir das gesamte Lager mit einem Fingerzeig niederbrennen konnte und sie sicher war, dass auch der alte Mann seine Kraft kannte, fand sie keinen Anflug von Ehrfurcht, sondern bestenfalls einen fast widerwilligen Respekt auf seinen Zügen. Noch nie zuvor hatte Mia eine so glühende Verachtung jeder Art von Angst in einem Augenpaar brennen sehen.
Ein paar junge Männer traten aus der Menge, doch noch ehe der alte Mann sich zu ihnen umwenden konnte, hob Lyskian die Hand. Ein Kältehauch glitt durch die Luft, er strich sanft über Mias Gesicht, vereiste jedoch den Boden und streifte die Schuhspitzen der Männer, die erschrocken zurückwichen. Lyskian fixierte den Alten, der noch immer zu ihm herüberstarrte, und sagte etwas auf Romani. Weich und samten kamen die Worte über seine Lippen, und Mia sah, wie sich die Verschlossenheit der Umstehenden auf ihren Gesichtern verlor. Der Mann schwieg für einen Moment, dann nickte er und forderte Lyskian und Mia mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. Die jungen Männer wichen vor ihnen zurück, aber sie sahen ihnen nach, als würden sie nur darauf warten, das Kräftemessen fortzusetzen.
»Ich wusste nicht, dass du ihre Sprache sprichst«, sagte Mia.
Lyskian lächelte. »Niemand spricht die Sprache der Roma außer ihnen selbst. Sie ist etwas Besonderes, sie ist wie … «
»… Magie«, erwiderte Mia, ohne es beabsichtigt zu haben, und lächelte verlegen.
Lyskian nickte. »Jovan Nikoli ć hat einmal gesagt: Bei der großen Flucht der Roma-Stämme aus Indien, auf dem Weg von Land zu Land, fielen die Worte ihrer Sprache aus den Wagen wie die Weizenkörner aus dem löchrigen Sack. Und es gab niemanden, der sie aufsammeln konnte. Also übernahmen sie in jedem neuen Land etwas von der dort herrschenden Sprache, es entstanden die verschiedensten Dialekte, über hundert an der Zahl. Bis heute gibt es keine standardisierte Version oder eine allgemeingültige Grammatik. Die Sprache der Roma ist der Schlüssel zu ihrem Volk. Und sie ist vollkommen frei.«
Schweigend ging Mia neben Lyskian an den Baracken vorüber, ließ die feindlichen Blicke von sich abgleiten und lauschte auf die Sprache, die rau klang wie ein Geheimnis, das vor ihr auf und ab tanzte, nur um ihr zu zeigen, dass sie es niemals ergründen würde. Die Bewohner dieses Lagers waren keine Anderwesen, keine Hartide. Sie waren Menschen, jene Frauen mit kleinen Kindern, die Mia aus den Fußgängerzonen der Stadt kannte, wo sie bettelten, oder die Jungen, die mit alten Instrumenten die Metros stürmten und für ein wenig Geld fremdartige Musik vortrugen. Sie wusste, dass sie Eisen sammelten und Holz, dass viele von ihnen ihre Nahrung aus den Abfalltonnen der Supermärkte holten, dass sie meist ohne Wasser- und Stromanschlüsse in ihren provisorischen Lagern lebten, die es überall im Land gab und die von der Regierung immer rigoroser geschlossen wurden. Mia wusste, was alle wussten über diese Menschen, und hatte vielleicht gerade deswegen nicht die geringste Ahnung von ihnen.
Vor einer Wellblechhütte mit grüner Plastiktür blieb der Mann stehen. Er klopfte gegen die Wand, dass die Behausung bedenklich wackelte, und murmelte etwas. Dann warf er Lyskian einen undurchsichtigen Blick zu und machte sich davon. Im Inneren der Hütte rumpelte es, die Tür öffnete sich, und eine weiße Ziege lief auf die Straße. Meckernd drehte sie sich um und betrachtete Mia und Lyskian von Kopf bis Fuß aus seltsamen gelben Augen, ehe sie steifbeinig um die Ecke einer Hütte verschwand.
Lyskian schob die Tür weiter auf. Vor ihnen lag ein kleiner, mit Kisten und verrotteten Matratzen zugestellter Raum. Ein beißender Geruch schlug ihnen entgegen, Mia hörte das Brechen von Eierschalen unter ihren Füßen. An der Decke hingen Mobiles, an Fäden geknüpfte Federn und die Knochen kleiner
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