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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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sich, und so standen sie lange am Rand der Karawanenstraße, denn Onkel Tschen hatte sich vorgenommen, seinen minderwertigen
     Neffen Anstand zu lehren. Erst als die Jurtenvon Küh-Wasser kleiner wurden, sah man Onkel Tschen in die Jurte gehen und Tschin davonhüpfen.
    »Jetzt wird er dem Esel den Stein abnehmen«, sagte Großer-Tiger.
    »Und dann wird er den Blitzbrief besorgen«, sagte Christian bekümmert.
    »Ei ja, es ist ein Elend«, seufzte Großer-Tiger niedergeschlagen. Christian steckte den Kopf in den Pelzmantel und dachte
     betrübt darüber nach, wie schwierig manche Sachen waren. Warum hatte ihn Großer-Tiger gestern Abend nicht ausreden lassen,
     und warum hatte er Glück schon wieder angelogen und gesagt, er wisse erst die Hälfte des Blitzbriefes? Christian verstand
     nicht, weshalb Großer-Tiger so viele Lügen losließ. Früher war das nie so gewesen.
    Großer-Tiger dachte auch nach. Er schaute nach den rosa Wölkchen, die über den Hügeln im Osten schwammen, und dann sagte er:
     »Du musst dein Herz weit machen, Kwi-Schan!«
    »Ich höre, Großer-Tiger«, sagte Christian.
    »Du und ich«, begann Großer-Tiger, »wir beide wissen viel, aber wir dürfen niemand ein Stückchen davon erzählen.«
    »Ganz besonders Grünmantel nicht«, sagte Christian.
    »Nein, ganz besonders Glück nicht«, widersprach Großer-Tiger.
    »Wieso?«, fragte Christian, und er überlegte, weshalb gerade Glück nichts wissen dürfe.
    »Den Mund aufmachen ist gefährlich«, erklärte Großer-Tiger, »den Mund geschlossen halten ist gefahrlos. Glück darf niemals
     erfahren, dass wir von seinem Handel mit Grünmantel etwas wissen.«
    »Aha!«, sagte Christian; »und warum niemals?«
    »Weil Glück sein Gesicht verlieren würde. Das darf nicht sein, und darum müssen wir es so einrichten, dass er immer als Ehrenmann
     dasteht. So erhalten wir ihn uns als Freund. Ich habe deshalb   … verstehst du?«
    »Jetzt verstehe ich«, sagte Christian.
    »Wer einmal lügt, muss vielmal lügen«, sagte Großer-Tiger traurig. »Wundere dich nicht, Kwi-Schan, wenn du mich Lügen loslassen
     hörst.«
    »Ich werde mich nicht mehr wundern«, versprach Christian.
    »Wir dürfen zu Glück nichts von dem Benzin und nichts von Hsing-Hsing-Hsia sagen. Darum muss ich jetzt nachdenken, was ich
     ihm erzähle, sobald er mich fragt: Was stand in dem Blitzbrief geschrieben?«
    »Ich werde auch nachdenken«, sagte Christian; »am Ende fällt mir etwas ein, und du musst nicht allein Lügen loslassen.«
    Er kroch tiefer in den Pelzmantel, zog die Fellmütze über die Ohren, und Großer-Tiger machte es ihm nach. Sie schauten nach
     den rosa Wölkchen im Osten; aber die Wölkchen waren bleich geworden und dünn, und als die Sonne feierlich in den reinen Himmel
     schwebte, lösten sie sich vollends auf. Die große Sonne, die nur die Kurzschläfer in ihrer Mächtigkeit zu sehen kriegen, verschwendete
     alles Gold, das sie hatte. Jedes Ding glänzte, die Felsen von Muruktschich, die Grashalme am Weg, die eisernen Fässer und
     die Schwingen eines frühen Adlers, der über dem Tal Schara-Murin kreiste.
    Eine Stunde später, als die Sonne schon wärmte, hörte der Graswuchs auf. Es gab immer mehr Steine, und es gab einen flachen
     Bergrücken, der von Norden her seine Ausläufer in das Tal schob wie eine ausgebreitete Hand die Finger. Der erste Ausläufer
     verhieß einen bequemen Aufstieg, und man sah die Karawanenstraße den sanften Hang hinaufziehen. Trotzdem verließ Glück hier
     den Weg und bog auf einer wenig einladenden Geröllhalde nach Süden ab. Der Wagen wackelte eine Zeitlang über grobes Gestein,
     bis er eine breit ausladende Senke erreichte, die aber nur den Anstieg zu einem zweiten Schutthang vorbereitete, wo es wieder
     polternd über Steine ging.
    So wechselte es einige Male, bis sich ein Tal öffnete, in dem der scharfe Einschnitt eines Wasserlaufs die Eintönigkeit unterbrach.
     Drei bis vier Meter hohe rote Lössbastionen säumten das Flussbett und ließen die Gewalt des Wassers ahnen, das sich hier Bahn
     gebrochen hatte. Allein das Bett war mit Steinen gefüllt statt mit Wasser, und erst als das Tal sich weitete, sah man Schilfwiesen
     und hie und da einen Tümpel. Der Bergrücken im Norden sprang in einem wie vom Zirkel gezogenen Halbkreis zurück und verflachte
     dann. Aus dem Halbkreis kam die Karawanenstraßedurch eine Felsenschlucht in die Niederung, und es war leicht einzusehen, weshalb Glück sie verlassen hatte. Am Rand der

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