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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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Ohnezehen lächelte, und man sah, dass er nicht mehr
     viele Zähne hatte.
    »Sie ist umgezogen«, knurrte Glück benommen.
    Ohnezehen nahm den Stock und ging zur Truhe. Er kramte darin, und als er gefunden hatte, was er suchte, klappte er den Deckel
     zu und setzte sich darauf.
    »Entschuldige, lieber Neffe«, sagte er, »das Stehen fällt mir schwer. Nimm diese Kleinigkeit. Sie ist für deine Mutter.« Damit
     legte er zwei blinkende Silberbarren neben sich auf den Truhendeckel.
    »Keine Bedenken«, sagte Ohnezehen, »sie stammen noch aus der Zeit, als ich die Herberge zu den ›Hundert Abschnitten der Wahrheit‹
     in Anshi besaß.«
    »Ich hörte davon«, gab Glück ungern zu, aber er kam näher, und er betrachtete Ohnezehen genau und mehr noch das Silber.
    »Verzeih, alter Onkel«, sagte Glück, »ich möchte dir nicht Unrecht tun, – ich möchte überhaupt niemand Unrecht tun, aber   …«, und dann stand Glück eine Weile unschlüssig und mit gesenktem Kopf vor Ohnezehen. Schließlich bequemte er sich widerwillig
     zu einer flüchtigen Verbeugung.
    Ohnezehen ließ es gelten. Er beschwerte sich mit keinem Wort über den mangelnden Fußfall kindlicher Verehrung, ja, er tippte
     Glück mit dem Stock vertraulich auf den Bauch. »Du«, sagte er, »setz dich zu mir. Soeben habe ich seit sieben Jahren die erste
     Freude erlebt. Ich erkannte dich, als du zur Tür hereintratst, so sehr gleichst du deinem Vater bis in die Gebärde des Zorns.
     Leider ist jetzt nicht die richtige Zeit für lange Erklärungen. Es eilt. Der Uralte-Herr«, sagte Ohnezehen, »wünscht Kompass-Berg
     und Großer-Tiger am zweiten Tag des dritten Monds vor Sonnenaufgang zu sehen.«
    »Der Uralte-Herr!«, schrie Glück empört, »also so einer bist du jetzt?«
    »Ja«, sagte Ohnezehen, »so einer bin ich jetzt, und in einer halben Stunde reiten wir. Es ist alles vorbereitet.«
    »Kommt einmal her, ihr zwei«, rief Glück mit mühsam unterdrücktem Zorn, »was meint ihr dazu?«
    Christian und Großer-Tiger hatten sich schon einige Male zugeblinzelt. Sie waren bereit, mit Ohnezehen zu reiten, und Christian
     war drauf und dran, es zu sagen, als ihn ein warnender Blick von Großer-Tiger traf. Das war gerade, als Glück zornig fragte:
     »Was meint ihr dazu?«, und Christian begriff, dass er jetzt nicht sagen durfte, was er sagen wollte. Es musste was anderes
     sein; etwas, das Glück wieder ein Ansehen gab. Deshalb schwieg Christian, und Großer-Tiger trat einen Schritt vor.
    Er sagte: »Mein Freund Kompass-Berg und ich haben in dieser Sache keine eigene Meinung.«
    Christian trat auch einen Schritt vor. »Bisher«, sagte er, »hat der befehlende Herr sämtliche Anordnungen erteilt, und sie
     erwiesen sich als vortrefflich. Wir bitten ihn als gehorsame Kinder, zu sagen, was er für gut befindet, damit wir es tun.«
    Das waren zwei sehr schöne Worte, und Glück setzte sich aufrecht. Er war stolz auf Christian und auf Großer-Tiger, aber sein
     Zorn kochte weiter. Ungemach tat ein Übriges. »Auch ich«, sagte er zu Ohnezehen, »stehe seit vielen Tagen unter der Befehlsgewalt
     deines werten Neffen, und ich befand mich wohl dabei.«
    Das waren auch zwei schöne Worte, aber nun musste Glück reden, und Glück konnte es nicht. Sein Herz begann schrecklich zu
     pochen, und nichts anderes konnte er denken als: »Mein Gesicht ist schwarz geworden, ganz schwarz, und jeder kann es sehen.«
     Glück verachtete seinen Onkel. Am liebsten hätte er ihn angespien.
    Ohnezehen hob seinen Stock ein wenig hoch und ließ ihn auf den Lehmboden fallen. Es tat einen leichten Schlag, und alle merkten,
     dass Ohnezehen statt Glück reden wollte.
    Er tat es auch.
    »Mondschein war vor drei Tagen bei mir«, begann er, »und von ihm weiß ich, wer ihr seid. Mondschein sagte: ›Durch den Sandsturm
     haben wir drei Tage verloren. Wenn Glück den Weg nach Tschagan-Burgussun kennt, und wenn er von Tschagan-Burgussunden Weg zur Burg weiß, dann gib ihm drei Pferde und sage ihm, dass er in zwei Nächten und drei Tagen mit Kompass-Berg und
     Großer-Tiger dort sein muss. Es ist wichtig für ihn und für uns alle. Sollte Glück den Weg nicht wissen, so musst du reiten,
     und ich verlasse mich auf dich.‹«
    »Und Ungemach?«, fragte Christian.
    »Auf mich kommt es nicht an«, rief Ungemach, »es hat nichts zu sagen.«
    »Doch«, widersprach Ohnezehen, »gerade auf dich kommt es an. Du reitest mit den Kamelen langsam nach. In Tschagan-Burgussun
     wartet ein Führer auf dich, und

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