Großer-Tiger und Christian
zu öffnen und wieder zu schließen. Nachher rückte
er die Mütze ein bisschen, aber dabei blieb es.
»Habe ich dir schon gesagt«, erkundigte sich Ungemach, »dass dein Onkel einer ist, dem sich mein Herz zuneigt?«
»Schweig«, rief Glück, »bedenke, was du sprichst.«
»Ich habe es bedacht«, erwiderte Ungemach mit Würde, und dann nahm er den Sack aus der Ecke. Im Hinausgehen blinzelte er Großer-Tiger
und Christian zu. Sie öffneten ihm die Türe. »Keine Angst«, flüsterte Ungemach, »dieser Onkel ist ein Mastbaum der Tugend.«
Die Türe schloss sich geräuschlos. Draußen hörte man das Getrappel von Hufen und das leise »Lai! Lai! Lai!« von Ohnezehen,
das so klang, als ob er mit den Pferden Pferdesprache redete.
»Sag du was«, flüsterte Großer-Tiger.
»Du kannst es besser«, flüsterte Christian.
»Wir wollen beide reden«, sagte Großer-Tiger und nahm Christian an der Hand. Schweigend traten sie vor den unglücklichen Soldaten
Glück. Ein paar Sekunden war es still; dann schob Glück die Silberbarren beiseite, als könnte er die lästigen Zeugender Verwandtschaft damit verschwinden machen. Er schob sie so lange, bis sie über die Kante des Truhendeckels kippten und
dumpf auf den Boden fielen. Sie klirrten aneinander und verstummten jäh. Da endlich hob Glück das Gesicht, aber weil er geweint
hatte, barg er es in den Händen.
»Geht«, sagte Glück, »ein Mann wie ich hat hier nichts mehr zu befehlen.«
»Wir müssen gehen«, sagte Großer-Tiger, »früher hatte der befehlende Herr Geheimnisse vor uns. Er möge verzeihen, dass wir
jetzt ein Geheimnis vor ihm haben.«
»Es ist aber kein schlimmes«, sagte Christian schnell, »es ist ein gutes. Eigentlich«, fügte er hinzu, »ist es gar kein Geheimnis,
sondern bloß eine Verabredung.«
»Mit wem?«, rief Glück. Er nahm die Hände vom Gesicht und legte sie erwartungsvoll auf die Knie. »Sagt es mir, damit ich euch
ruhiger ziehen lasse.«
»Mit dem befehlenden Herrn«, erwiderte Großer-Tiger, »wir sehen uns in Möng-Schui wieder.«
Glück lächelte traurig. »Ihr seid Spitzbuben«, sagte er, »ihr sprecht, als ob ich einer wäre, der eure Schliche nicht kennt.
Na meinetwegen. Ich muss euch aber noch sagen, mit wem ihr reitet, damit ihr es wisst. Dieser mein Onkel«, sagte Glück, und
ohne es richtig zu wollen, machte er eine Pause, »… ist ein Mörder.«
Wieder gab es eine Pause, und Christian und Großer-Tiger erschraken tief hinein.
»Nicht wahr«, sagte Glück, »mehr kann man von seines Vaters Bruder nicht sagen? Vielleicht denkt ihr, das kann nicht sein,
denn wer ein Mörder ist, dessen Kopf fällt in den Korb des Henkers. – Habt ihr seine schönen Hände gesehen«, fragte Glück,
»die geraden langen Finger mit den stumpfen Spitzen? Diese Hände brachten einen Menschen um. Nachher stellte sich freilich
heraus, dass der Tote ein gewöhnlicher Räuber war, ein Mongole, und dazu einer von Dampignaks Bande, ein Herr der Berge. Ihr
seht, meines Vaters Bruder hatte Glück. Man schnitt ihm statt des Kopfes nur die Zehen ab, und seither geht er auf den Fersen.
Haus und Hof wurde ihm von Dampignaks Bandeaus Rache niedergebrannt, und er selbst verschwand. Darüber waren wir sehr froh. Doch was nützt das? Meine Familie steht in
Schande und Beschämung.«
»Unverschuldetes Unglück bedarf keiner Entschuldigung«, rief Großer-Tiger, »wir bedauern den befehlenden Herrn.«
»Aber«, fragte Christian, »der werte Herr Onkel befindet sich jetzt selbst in der Gesellschaft des Uralten-Herrn. Wie geht
solches zu?«
»Ich kann es mir nicht erklären«, sagte Glück, »irgendetwas stimmt da nicht. Man nennt das: sich in undurchdringliches Dunkel
hüllen.«
»Wir werden versuchen, es herauszukriegen«, versprach Großer-Tiger.
»Nehmt ihr schon wieder derartige Aufträge entgegen?«, fragte Glück. »Ihr solltet lieber aufpassen, dass euch selbst nichts
passiert.«
»Der werte Herr Onkel sieht nicht wie ein Mörder aus«, versicherte Christian.
»Ungemach nannte ihn einen Mastbaum der Tugend«, teilte Großer-Tiger mit.
»O ihr Heiligen der Vorzeit«, rief Glück, »Ungemach sollte Disteln fressen und iah rufen. Ich weiß, was ich weiß, und ihr
sollt es auch wissen. Er tat es mit einem Küchenmesser. Passt also auf, wenn er ein Messer in die Hand nimmt.«
»Wir werden darauf achten«, versprach Großer-Tiger.
»Ich will euch«, sagte Glück, »etwas mitgeben; das soll den Alten stutzig
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