Grün war die Hoffnung
unter dem Sternenzelt. Marco hatte am Morgen mit ihnen geredet – sie kamen aus Berkeley, er war dort Prof und sie eine Dichterin. Sie hatten jeder zwei Dollar für die dünnflüssigen Haferflocken und die schwammartigen süßen Brötchen gespendet, und da war jeder Cent klug investiert, denn sie kamen voll gut an. Der Prof hatte eine Glatze, aber er trug ein Tuch um den Kopf geschlungen und hatte sich die langen Haarsträhnen im Nacken eingefettet, so daß sie ihm über den Kragen abstanden und ihm bei seinen Kollegen an der soziologischen Fakultät bestimmt den Ruf eines enorm hippen Typs einbrachten. Die Dichterin war um die Vierzig, total unbekannter Name, mit eingefallenen Brüsten in einem ärmellosen T-Shirt, vogelfederartigen Haaren, einem verkniffenen Mund und scharfen, verstohlenen, neugierigen Blicken, die sich überall prüfend hineinbohrten, schließlich lag in allem der Stoff für ein Gedicht. Nun, hier war auch so ein Stoff, der sich ihnen unmittelbar darbot, und welchen Titel könnte sie dafür finden? – »Kampf um den Graben zum Rieselfeld«? Oder einfach nur »Der Graben«? Marco wand sich und wich den Schlägen aus oder versuchte, sie so gut wie möglich zu verkraften. Aber hey, »Der Graben« klang doch wunderbar. »Der Graben«, das hatte was.
Passiert war folgendes: sie hatten einen Spaziergang unternommen, der Prof und die Poetin, hatten sich die Hitze und den Staub und die Eidechsen reingezogen, deren winzige Reptilienbrüste in der Superaura von Frieden und Liebe und Gemeinschaftsgeist pulsierten, als plötzlich sie – die Dichterin – einen Schrei ausstieß. Und es war kein gewöhnlicher Schrei, nicht die Sorte von mäßig aufgeregtem Proforma-Schrei, wie man ihn von einer Dichterin erwarten würde, die damit einen Faustkampf unter Hippies in einem halbfertigen Graben auf einer sengendheißen Wiese oberhalb des Russian River kommentierte; nein, dieser Schrei vermittelte Entsetzen, ein wildes Zerren an dem Band, das sich straff zwischen den Polen des Daseins spannt. Der Schrei der Dichterin erhob sich über die Hitze, ein kompakter Laut, und alles erstarrte. Dewey ließ los, Lester zog den zum Tritt ausholenden Fuß zurück. Sky Dog und Alfredo schwangen den Kopf zuerst zu ihr herum und dann zu dem dunklen Waldrand am Ende des Grundstücks. Marco war etwas unsicher auf den Beinen und trieb noch auf der Adrenalinwelle dahin, die sich anfühlte, als würde glühendes Metall durch seine Adern kreisen, jedenfalls drehte sich Marco als letzter um.
Was er da sah, war Ronnie – Pan –, der aus dem dunklen Tann wankte, und er war in Blut getaucht, das das knallige Licht der Sonne zum Flammen brachte, und über seinen Schultern lag etwas, verschlang ihn geradezu in der glitzernden roten Nässe. Es war – es war ein Lebewesen, oder nein, etwas Totes, ganz ohne Zweifel war es tot. Und es blutete noch. Das Mädchen , dachte Marco, das Mädchen , und es war wohl nicht genug, daß sie es vergewaltigt und gedemütigt hatten, jetzt also auch noch ... Aber das war ja gar keine menschliche Gestalt. Was sah er da? Fell, hellbraunes Fell. Hatte er einen der Hunde umgebracht, oder was?
»Hey, Leute!« Ronnies Stimme schleppte sich über die Wiese, ganz schwach vor Aufregung. »Wir haben Fleisch !«
»Fleisch?« fragte Alfredo und ging bereits auf ihn zu – sie alle bewegten sich jetzt auf ihn zu. »Was redest du denn? Was hast du da?«
Marco kletterte aus dem Graben heraus. Ronnie kam rasch näher, dreißig Meter oder noch weniger, und er torkelte unter seiner Last aus Blut, Fleisch, Fell und Knochen. »Scheiße, was willst du denn? Ich hab ein Reh erwischt!«
6
So wie einige der Bräute loslegten, war es fast, als hätte er Bambi erschossen oder so, und Merry war die schlimmste – oder nein, Verbie, Verbie war sogar noch schlimmer, als wäre sie nicht die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens im Supermarkt durch die Fleischabteilung gewandert und hätte sich nicht Billighamburger und Peperonipizza reingestopft wie jeder andere Teenager in Amerika. Und dann dieser Alfredo mit seinem Fleisch-essen-ist-Mord-Gebrabbel, und wie konnte man ein armes Mitgeschöpf einfach abschlachten und mit einem solchen Karma überhaupt weiterleben und bla-bla-bla . Es war ein Witz, echt, das war es. Dauernd redeten alle davon, zur Natur zurückzukehren, ins einfache Leben, raus aus der Tretmühle, aber wenn sie innerhalb von fünfzehn Kilometern keinen Supermarkt gehabt hätten, wären sie allesamt längst verhungert.
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