Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
und das mußte sehr, sehr vorsichtig geschehen, damit ders nicht
mißverstand: nicht als Annäherungsversuch und nicht als Bestechung, eben nur als so ne selbstverständliche Freundlichkeit
unter Arbeitskameraden, und wenn sie dem Nazi – vielleicht im Laufe von vier Wochen – vier oder fünf gegeben hatte, durfte
sie Boris auch mal offen eine Zigarette geben, und der Pelzer sagte dann wohl manchmal, ›Kinder, geht mal raus, macht ne Pause und raucht mal eine
in der frischen Luft‹, und dann durfte auch Boris rausgehen und draußen offen eine rauchen – und sie konnten sich mal zwei,
drei Minuten lang offen miteinander unterhalten, natürlich so, daß keiner die Worte verstand. Und hin und wieder feierte der
Nazi ja auch mal krank, und auch die unangenehme Frau, und manchmal beide gleichzeitig; es gab ja Glückszufälle, wenn drei
oder vier gleichzeitig krank waren und Pelzer weg, und Boris machte ja da die Buchführung zum Teil, |265| Leni den anderen Teil – dann hockten sie mal zwanzig Minuten oder auch zehn offiziell miteinander im Büro und konnten sich
richtig was erzählen, über ihre Eltern, ihr Leben, Leni über den Alois – es hat ja ewig gedauert, da hatten sie, glaube ich,
einander schon beigewohnt, wie Leni es nannte, da wußte sie nicht einmal seinen Familiennamen. ›Wozu‹, hat sie zu mir gesagt,
›wozu mußte ich das früher wissen, da gabs Wichtigeres mitzuteilen, und ich hab ihm gesagt, daß ich Gruyten heiße und nicht
wie auf dem Papier Pfeiffer.‹ Und wie Leni sich in die Kriegsgeschichte einarbeitet, um ihm über die Frontlage richtig berichten
zu können: auf einem Atlas trug sie alles ein, was wir von den Engländern hörten, und ich sage Ihnen, die wußte genau, daß
die Front Anfang Januar 44 noch bei Kriwoi Rog verlief und Ende März bei Kamenez Podolsk eine Kesselschlacht stattfand und
die Russen Mitte April 44 schon kurz vor Lemberg standen, und dann wußte sie ganz genau, wer nach Avranches, St. Lô und Caën
vom Westen herkam: die Amerikaner, und im November, als sie schon lange schwanger war, dann ihre dauernde Wut auf die Amerikaner,
daß die – so nannte sie es – ›nicht voran machten‹ und so lange brauchten, um von Monschau bis an den Rhein zu kommen. ›Das
sind doch nur 80–90 Kilometer‹, sagte sie, ›warum dauert das so lange?‹ Nun, wir rechneten ja alle damit, spätestens im Dezember
oder Januar befreit zu sein, aber es zog sich eben hin, und das konnte sie nicht verstehen. Dann die schreckliche Depression
über die Ardennenoffensive und die lange Schlacht im Hürtgenwald. Ich habs ihr erklärt oder zu erklären versucht. Daß die
Deutschen jetzt wie die Wilden rangehen, weil die Amerikaner auf deutschen Boden kommen, daß der schreckliche Winter natürlich
den Vormarsch verhinderte. Wir haben das zusammen derart gepaukt, daß ichs heute noch im Kopf habe. Nun, Sie müssen verstehen,
daß sie schwanger war und daß wir |266| einen Mann finden mußten, der vertrauenswürdig war und den Vater für Lenis Kind abgeben konnte. Die Eintragung: ›Vater unbekannt‹
wollte sie nur im äußersten Fall vornehmen lassen. Überflüssigerweise – und ich finde heute noch: überflüssigerweise, denn
wir hatten verdammt andere Dinge im Kopf, stiftete Boris noch zusätzliche Verwirrung, indem er ihr eines Tages einen Namen
zuflüsterte: Georg Trakl. Wir waren beide wie vor den Kopf geschlagen, wußten gar nicht, was das bedeuten sollte: Schlug er
den etwa als Vater für Lenis Kind vor, und wer war es, wo wohnte er? Die Leni hatte das Trakl wie Trackel verstanden, und
weil sie ein bißchen Englisch konnte, kam sie sogar auf Truckel oder Truckl. Ich weiß bis heute nicht, was Boris sich dabei
gedacht hat, im September 44. Da gings doch für jeden von uns um Kopf und Kragen. Ich habe rumtelefoniert, den ganzen Abend,
weil die Leni so ungeduldig war und es am gleichen Abend noch wissen wollte. Nichts: keiner meiner Bekannten sprach drauf
an. Schließlich ist sie noch spät nach Hause gefahren und hat alle Hoysers ausgequetscht. Nichts. Ziemlich peinlich, weil
sie am Tage drauf kostbare Sekunden opfern mußte, um Boris zu fragen, wer das denn sei. Er sagte: ›Dichter, deutsch, Österreich,
tot.‹ Dann ging Leni schnurstracks in die nächste öffentliche Bibliothek und schrieb prompt auf ihren Suchzettel: Trackel,
Georg – erregte die streng geäußerte und gezeigte Mißbilligung einer ältlichen
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