Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
winterlichen Kappesfeld eine Sonnenblume aufgeht oder ersteht,
wenn das Mädchen anfing zu singen. Herrlich wars, und jeder, jeder von uns hat gespürt, daß sie geliebt wird und liebt – wie
die selbst aufgeblüht ist damals. Natürlich hat außer dem Walterchen keiner geahnt, wer der Erkorene war.«
Pelzer: »Natürlich hat mich ihr Gesang erfreut, ich hatte doch bis dahin gar nicht gewußt, daß die so eine hübsche kleine
Altstimme hat – aber wenn ich Ihnen auch nur andeutungsweise erklären könnte, wieviel Ärger mir das eingebracht hat. Telefonieren,
telefonieren – hin- und hergefragt, obs wirklich russische Lieder wären, ob der Russe was damit zu tun gehabt hätte usw. Nun,
das hat sich dann beruhigt, aber Ärger hats gegeben, und so ganz ungefährlich war es nicht. Ich sage Ihnen doch: nichts war
damals ungefährlich.«
Hier muß nun der möglicherweise per Irrtum entstandene Eindruck korrigiert werden, der darin bestehen könnte, Boris und Leni
hätten ihr Leben in ständiger Trübsal verbracht, oder Boris sei allzusehr bestrebt gewesen, Lenis Bildung, was deutsche Lyrik
und Prosa anbetrifft, zu testen oder zu vervollständigen. Wie er Bogakov um jene Zeit täglich erzählte, freute er sich auf
die Arbeit und war fröhlich, weil er, wenn er überhaupt einer Sache gewiß sein konnte, des Wiedersehens mit Leni gewiß sein
und je nach Kriegs-, Bomben- und Gesamtlage auf eine »Einkehr« hoffen konnte. Nachdem er den argen Rüffel seines Gesanges
in der Straßenbahn wegen erhalten hatte, war er klug genug, einen spontanen Wunsch, in Gesang auszubrechen, mühsam zu unterdrücken.
Er kannte eine Menge deutscher Volks- und Kinderlieder, die er mit schwermütiger Stimme vorzutragen wußte, und das brachte ihm nun Ärger mit Viktor Genrichovič ein und mit einigen seiner Lagergenossen, denen der Sinn |270| (verständlicherweise. Der Verf.) nicht unbedingt nach deutschem Liedgut stand. Schließlich kam es zu einer Übereinkunft: Da
»Lili Marleen« genehmigt, sogar begehrt war und Boris’ Stimme anerkannt wurde, durfte er, wenn er einmal »Lili Marleen« sang
(ein Lied, das ihm lt. Bogakov nicht lag – der Verf.), ein anderes deutsches Lied singen. Seine Lieblingslieder lt. Bogakov:
»Am Brunnen vor dem Tore«, »Sah ein Knab«, »In einem Wiesengrunde«. Daß Boris über die Köpfe der trübsinnig dreinblickenden
Mitfahrer in der Straßenbahn am frühen Morgen hinweg am liebsten ein Lied wie »Horch, was kommt von draußen rein« geschmettert
hätte, ist vorausgesetzt. Ein Trost blieb ihm jedenfalls nach dem einmaligen, so peinlich mißverstandenen, rabiat unterdrückten
Gesang: der deutsche Arbeiter, der ihm seinerzeit Tröstliches zugeflüstert hatte, fuhr fast jeden Morgen mit in derselben
Bahn. Natürlich konnten sie kein Wort mehr miteinander wechseln, blickten nur gelegentlich tief und frei einander in die Augen,
und nur, wer je in ähnlicher Lage war, kann ermessen, wieviel ein paar Augen, in die man tief und frei hineinblicken darf,
bedeuten können. Bevor er nun selbst auch im Betrieb zu singen (Bogakov) anfing, ergriff er Vorsichtsmaßnahmen kluger Art.
Da es sich nun einmal nicht vermeiden ließ, daß fast alle in der Kranzbinderei gelegentlich mit ihm sprechen mußten, sogar Kremp und die Wanft – und war es auch nur ein hingeknurrtes »Da« oder »Komm schon« oder »Nun« –, da Pelzer hin
und wieder ausgiebige Dialoge mit Boris führen mußte – über Schleifen, Kranz- und Blumenbuchführung, über den einzuschlagenden
Arbeitsrhythmus –, trug Boris Pelzer eines Tages die Bitte vor, ob er nicht auch hin und wieder »ein Lied vortragen« dürfe.
Pelzer: »Ich war platt. Ja. Daß dem Jungen danach noch der Sinn stand. Aber das war nun eine verflucht heikle |271| Geschichte nach dem Reinfall mit dem Lied in der Straßenbahn, wobei zum Glück niemand gemerkt hatte, was, nur, daß er sang.
Als ich ihn fragte, warum er denn unbedingt singen wolle, und ihm klarmachte, daß natürlich ein singender russischer Kriegsgefangener
angesichts der Kriegslage als Provokation empfunden werden müsse – Sie müssen bedenken, das war im Juni 44, Rom war schon
in amerikanischer und Sewastopol schon wieder in russischer Hand –, da sagte er mir: ›Es macht mir so viel Freude.‹ Nun, ich
muß Ihnen sagen, ich war gerührt, regelrecht gerührt: es machte ihm Freude, deutsche Lieder zu singen. Nun, ich habe zu ihm
gesagt: ›Hören Sie, Boris,
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