Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
mit dem Daumen über die Reiter fuhr, las ich die Namen und versuchte Zusammenhänge mit dem herzustellen, woran ich arbeitete. Nichts. Ich nahm mir den oberen Schub des zweiten Schranks vor und fand darin weitere Akten. Schließlich stieß ich auf einen Ordner mit der Aufschrift Eidolon Productions. Ich zog ihn heraus und legte ihn oben auf den Schrank. Dann sah ich weiter die Ordner durch, denn ich wusste, dass sich viele Fälle über mehrere Ordner erstreckten.
Ich stieß auf einen Ordner mit der Aufschrift Antonio Markwell und erinnerte mich wieder an den Fall, der fünf oder sechs Jahre zuvor für einige Furore in den Medien gesorgt hatte. Markwell war ein neunjähriger Junge gewesen, der aus dem Garten seiner Eltern in Chatsworth verschwunden war. Die RHD hatte zusammen mit dem FBI in dem Fall ermittelt. Es dauerte eine Woche, bis sie einen Verdächtigen fanden – einen Pädophilen mit einem Wohnmobil. Er führte Lawton Cross und seinen Partner, Jack Dorsey, zu der Leiche des Jungen. Er war oben in den Höhlen des Bronson Canyon vergraben gewesen. Sie hätten sie nie gefunden, wenn sie den Mörder nicht gefasst hätten. Dort oben gab es zu viele Stellen, um eine Leiche zu verstecken.
Es war ein wichtiger Fall gewesen, einer von der Sorte, mit dem man sich bei der Polizei einen Namen machen konnte. Ich nahm an, dass sich Cross und Dorsey danach wie die Größten vorgekommen waren. Sie konnten nicht ahnen, was die Zukunft für sie bereithielt.
Ich schloss den Schub. Er enthielt keine anderen Akten, die etwas mit meinen Ermittlungen zu tun zu haben schienen. Die untere Schublade, die letzte, war leer. Ich ging mit dem Ordner, den ich auf den Aktenschrank gelegt hatte, zum Malibu. Ich legte ihn auf die Motorhaube und schlug ihn auf. Ich hätte ihn mir unter den Arm klemmen und damit nach Hause fahren sollen. Aber ich war zu neugierig. Ich erwartete etwas. Einen neuen Anhaltspunkt vielleicht, irgendeinen wichtigen Hinweis. Ich wollte sehen, was Lawton Cross in dem Ordner aufbewahrt hatte.
Schon als ich den Ordner aufschlug, wusste ich, dass die Akte unvollständig war. Cross hatte einen Teil der Arbeitsdokumente des Falls kopiert, um sie zu Hause oder unterwegs zur Verfügung zu haben. Die Hauptberichte fehlten. Der Ordner enthielt auch nichts, was in direktem Zusammenhang mit dem Fall Angella Benton stand. Die meisten Dokumente betrafen den Filmgeldraub. Es gab Zeugenaussagen – darunter meine – und forensische Gutachten. Es gab einen DNS-Vergleich zwischen dem Blut aus dem gestohlenen Lieferwagen der Räuber und dem Sperma, das auf Angella Bentons Leiche gefunden worden war; keine Übereinstimmung. Es gab Zusammenfassungen von Vernehmungen sowie ein Zeit- und Ortdiagramm, an dem sich ablesen ließ, wo sich die Beteiligten zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehalten hatten. Diese Z-& O-Tabellen waren auch unter den Namen Alibibögen bekannt. Sie dienten dazu, die einzelnen Beteiligten eines Falls durchzusieben und dabei eventuell auf einen Verdächtigen zu stoßen.
Beim Überfliegen der Seiten dieses Dokuments stellte ich fest, dass Cross und Dorsey elf Personen eingetragen hatten, deren Namen mir nicht alle bekannt waren. Das Z-&-O-Diagramm war ein nützlicher Fund. Ich legte es beiseite, weil ich es ganz oben einheften wollte, sobald ich mit der Durchsicht der Akte fertig war.
Ich war gerade dabei, eine Kopie der Liste mit den Nummern der registrierten Geldscheine aus dem Ordner zu nehmen, als ich hinter mir Dannys Stimme hörte. Sie hatte die ganze Zeit in der Tür zum Haus gestanden und mich beobachtet, ohne dass ich es gemerkt hatte.
»Hast du gefunden, was du suchst?«
Ich drehte mich um und sah sie an. Das Erste, was mir auffiel, war, dass der Gürtel ihres Bademantels lose herunterhing und das hellblaue Nachthemd, das sie darunter trug, zu sehen war.
»Äh, ja, es ist alles hier. Ich wollte nur kurz einen Blick reinwerfen. Ich kann jetzt gehen, wenn du willst.«
»Wieso hast du es plötzlich so eilig? Lawton schläft immer noch. Er wird bis morgen früh nicht mehr aufwachen.«
Sie sah mir in die Augen, als sie den letzten Satz sagte. Ich versuchte zu ergründen, was gesagt und was gemeint war. Bevor ich reagieren konnte, wurde der Moment durch das Geräusch und die Lichter eines Autos unterbrochen, das rasch in die Einfahrt fuhr.
Ich drehte mich um und sah ein typisches Polizeifahrzeug – einen Crown Victoria – im Licht der offenen Garage halten. In dem Auto saßen zwei Männer, und
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