Haut, so weiß wie Schnee
Tanner?«
»Wer? Welchen Arm denn jetzt?«
»Den mit dem Einstich. Nicht den mit dem Biss.«
Jette griff nach der Flasche. Sie war schwer und mit einer Hand kaum zu halten. Als sie sich die Stelle desinfizieren wollte, ergoss sich ein ganzer Schwall Flüssigkeit über ihren Arm. Auf dem Boden bildete sich eine Lache.
»Mmh … Himbeeren«, sagte der Junge.
»Stimmt.« Jette lachte. »Himbeergeist.«
Der Junge ließ sich den Handschuh reichen, dehnte ihn, legte ihn um Jettes Oberarm und machte einen festen Knoten. »Trocknest du die Einstichstelle noch ab?«, bat er. »Und jetzt pumpen«, sagte er und öffnete und schloss zur Demonstration seine Faust. Dann packte er die Spritzen und Kanülen aus und setzte sie zusammen. Er arbeitete ruhig, tastete nach den Dingen, und Jette stellte fest, dass er gut zurechtkam. »Kannst du die Venen schon sehen?«, fragte der Junge.
»Ja«, sagte Jette und blickte auf ihre prall gefüllten, dunkelblauen Adern in der Armbeuge.
»Am besten legst du den Arm auf den Tisch«, sagte der Junge. Er fuhr mit den Händen über ihre Haut, tastete nach den angeschwollenen Venen, legte den Zeigefinger schließlich auf eine besonders große und sagte: »Die nehmen wir.« Er ließ sich von Jette die Nadel geben, setzte sie unter seinem Finger an, sagte behutsam »Achtung!« und stach vorsichtig in die Haut. Sofort sickerte dunkelrotes Blut in die Spritze. »Fließt es?«, fragte der Junge.
»Ja«, sagte Jette.
Der Junge zog langsam am Kolben der Spritze, und die Kammer füllte sich. Als der Anschlag erreicht war, wechselteer die Kammer aus und füllte eine zweite. Dann zog er die Nadel aus der Haut, drückte ein Taschentuch auf die Wunde und löste den Gummihandschuh.
Jette schüttelte ihren Arm. Er fühlte sich taub und schwer an. Das Blutabnehmen selbst hatte jedoch kaum wehgetan.
»Woher weißt du, wie tief du stechen musst?«, fragte sie.
»Man spürt es«, erklärte der Junge. »Wenn der Widerstand nachlässt, bist du in der Vene. Das hat mir mal ein Arzt gesagt. Es ist tatsächlich so.«
»Du bist echt mutig«, sagte Jette.
Kurz darauf standen sie wieder auf der Straße und lutschten Brausebonbons, die Anna ihnen mitgegeben hatte. Der Junge hielt sein Handy in der Hand und wollte ein Taxi rufen. In der Ferne säuberte ein Straßenkehrer mit schnellen Bewegungen den Rinnstein. Jette schaute dem Jungen zu, wie er mit den Fingerspitzen über die Tastatur fuhr. Er kenne jemanden in der Uniklinik, wo sie das Blut zwischenlagern könnten, hatte er gesagt. Wo sie es danach hinbrächten, müssten sie sich noch überlegen. Er hielt seinen Kopf etwas geneigt und wirkte sehr konzentriert. Seine blonden Haare, die er auf einer Seite länger trug als auf der anderen, fielen ihm ins Gesicht. Hinter den Rändern seiner Sonnenbrille schauten dichte dunkelblonde Augenbrauen hervor. Er hatte eine mittelgroße, fein geschnittene Nase. An den Schläfen konnte Jette jeweils eine lange schmale Narbe erkennen. Sie waren fast symmetrisch und schienen das Gesicht einzurahmen. »Warteschleife«, sagte der Junge und lauschte weiter in sein Handy.
Jette stellte auf einmal fest, dass die Sonnenbrille sie gar nicht mehr erschreckte. Jetzt muss ich nur noch wissen, wie er heißt, dachte sie. Aber irgendwie hatte sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, um ihn nach seinem Namen zu fragen.Der Junge kam ihr inzwischen schon so vertraut vor. Und einen alten Freund fragte man ja auch nicht: Hey, wie heißt du eigentlich?
»Hallo!«, rief in dem Moment eine Frau neben ihnen und berührte den Jungen leicht am Arm. Sie hielt einen Autoschlüssel in der Hand. »Was macht ihr denn hier?«
»Carmen!«, stieß der Junge überrascht hervor und drehte sich zu ihr hin. »Und du?«, entgegnete er, ohne ihre Frage zu beantworten.
»Ich war bei Marie«, antwortete die Frau und klimperte mit ihrem Autoschlüssel. »Sie wohnt direkt da vorn, auf der anderen Straßenseite. Sie ist krank. Nur ’ne leichte Grippe, nichts Schlimmes. Ich habe ihr ein Buch vorbeigebracht. Und was macht ihr hier?«, wiederholte Carmen ihre Frage.
»Wir wollen zur Uniklinik«, sagte der Junge. »Einen Klassenkameraden besuchen.«
»Wenn ihr wollt, fahre ich euch. Das ist kein großer Umweg.«
»Das wär klasse«, sagte der Junge.
Der Beifahrersitz war mit Tüten voll gestellt, deshalb setzten sie sich nach hinten. Sie saßen dicht nebeneinander, zwischen ihnen nur ein kleiner Freiraum. Der Junge und Carmen unterhielten sich. Marie … Personal
Weitere Kostenlose Bücher