Helle Barden
müde!«
Das Kloing der Federn wiederholte sich, als Karotte aufstand und zum Tisch wankte. Dort nahm er Platz, griff nach einem Stift, spitzte ihn mit seinem Schwert an, überlegte kurz und begann zu schreiben.
Angua beobachtete ihn stumm. Unter dem Kettenhemd trug Karotte
ein kurzärmeliges Lederwams. Ein Muttermal zierte den linken Oberarm
– es sah aus wie eine Krone.
»Notierst du alles, so wie Hauptmann Mumm?« fragte sie nach einer
Weile.
»Nein.«
»Was schreibst du dann?«
»Einen Brief an meine Eltern.«
»Im Ernst?«
»Ich schreibe ihnen immer. Das habe ich versprochen. Außerdem hilft
es mir beim Nachdenken. Wenn ich über etwas nachdenke, setze ich
mich hin und schreibe einen Brief. Mein Vater gibt mir viele nützliche
Ratschläge.«
Ein kleiner Kasten aus Holz stand auf dem Tisch; er enthielt Briefe.
Karottes Vater hatte die Angewohnheit, die Briefe seines Adoptivsohns
auf der Rückseite desselben Papiers zu beantworten – tief in einer Zwer-
genmine bekommt man kaum Papier.
»Nützliche Ratschläge?« wiederholte Angua. »Welcher Art?«
»Die meisten betreffen die Arbeit in den Bergwerken. Wie man richtig
gräbt und richtig abstützt. In Stol en darf man sich keine Fehler erlau-
ben.«
Die Spitze des Stifts kratzte übers Blatt.
Die Tür stand noch immer einen Spalt offen, doch jemand klopfte
recht zaghaft an. Damit wies der Betreffende taktvol darauf hin, daß er
Karotte in Gesel schaft einer spärlich bekleideten Frau sah und eigentlich gar nicht gehört werden wol te.
Feldwebel Colon hüstelte. Er ließ leisen Spott darin mitschwingen.
»Ja, Feldwebel?« fragte Karotte, ohne sich umzudrehen.
»Hast du weitere Anweisungen, Herr?«
»Stell Patrouillengruppen zusammen, Feldwebel. Jeder müssen minde-
stens ein Mensch, ein Trol und ein Zwerg angehören.«
»Ja, Herr. Was ist die Aufgabe der Gruppen?«
»Sie sollen gesehen werden, Feldwebel.«
»In Ordnung, Herr. Herr? Wir haben einen neuen Freiwilligen. Heißt
Bleich. Kommt aus der Ulmenstraße. Eigentlich ist er ein Vampir, aber
er arbeitet im Schlachthaus, und deshalb…«
»Dank ihm für seine Bereitschaft und schick ihn heim, Feldwebel.«
Colon sah zu Angua.
»Ja, Herr, in Ordnung«, sagte er widerstrebend. »Weißt du, eigentlich
gibt es mit ihm gar keine Probleme, er braucht nur zusätzliche Homogo-
blins im Blut…«
»Nein!«
»Na schön. Ich… äh… sage ihm also, daß er nach Hause gehen sol .«
Colon schloß die Tür. Sie knarrte spöttisch.
»Man nennt dich ›Herr‹«, meinte Angua. »Ist dir das aufgefallen?«
»Ja. Und es ist nicht richtig. Es wäre besser, wenn die Leute für sich
selbst denken würden. Diesen Standpunkt vertritt Hauptmann Mumm.
Das Problem mit den Leuten ist, daß sie nur dann für sich selbst denken,
wenn man sie dazu auffordert. Wie schreibst du ›Eventualität‹?«
»Ich würde darauf verzichten, ein solches Wort zu schreiben.«
»Gut.« Karotte drehte sich noch immer nicht um. »Ich schätze, wir
können die Ruhe in der Stadt auch für den Rest der Nacht gewährleisten.
Alle sind zur Vernunft gekommen.«
Nein, das sind sie nicht, widersprach Angua in Gedanken. Sie haben
dich gesehen. Und das ist wie Hypnose.
Die Leute versuchen, deiner Vision gerecht zu werden. Du träumst wie
der Große Fido. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Fido träumt
einen Alptraum, und du träumst für alle. Du bist wirklich davon über-
zeugt, daß jeder von Natur aus gut ist. Und die Leute glauben es eben-
falls, solange sie in deiner Nähe sind.
Draußen erklang rhythmisches Knirschen. Detritus’ Truppe drehte ei-
ne weitere Runde.
Angua gab sich einen inneren Ruck. Früher oder später mußte er Be-
scheid wissen.
»Karotte?«
»Hmm?«
»Weißt du, warum Knuddel, der Trol und ich zur Wache kamen?«
»Ja, natürlich. Ihr repräsentiert Minderheiten: ein Troll, ein Zwerg und
eine Frau.«
»Oh.« Angua zögerte. Draußen schien noch immer der Mond. Sie
konnte Karotte al es sagen, anschließend hinauslaufen, sich verwandeln und bis zum Morgengrauen ein ganzes Stück von der Stadt entfernt sein.
Mit der Flucht aus Städten hatte sie Erfahrung.
»Die Sache ist ein wenig anders«, sagte sie. »Weißt du, es gibt viele Un-
tote in der Stadt, und der Patrizier meinte…«
»Gib ihr einen Kuß«, warf der unterm Bett liegende Gaspode ein.
Angua erstarrte. In Karottes Gesicht zeigte sich die typische Verwir-
rung eines Mannes, der etwas gehört hat, das
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