Herbstfraß
meinen.“
„Himmel Herrgott noch mal! Ich meine es ernst. Willst du es notariell beglaubigt?“ Ein weiteres Mal ringe ich nach Atem, weil Bo mich viel zu fest drückt.
„Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist, Dot.“
Beinahe wäre mir die Frage herausgerutscht, was denn das Schlechteste gewesen ist. Ich kann mir gerade rechtzeitig auf die Zunge beißen.
„Frühstück!“, ruft eine weibliche Stimme von fern. Ich schaue auf die Uhr, die auf dem Nachttisch steht. Schon wieder würde ein Tag im Büro mit Verspätung beginnen. Wer war eigentlich für das Weckerstellen verantwortlich?
10:16 Uhr
Louisa hat belegte Vollkornbrötchen vom Bäcker mitgebracht, für Bo Kaffee und für mich Tee gekocht. Auf einem Zettel unter meiner Tasse steht Santa Claus. Es riecht intensiv nach Marzipan. Louisa liebt es, mir jeden Morgen eine andere Teesorte zu präsentieren und für mich sind diese kleinen Aufmerksamkeiten die ersten Highlights des Tages. Da sie Connections zu einem gut sortierten Teeladen hat, bekommt sie einen Haufen Probepäckchen, von denen ich allmorgendlich profitiere.
Nach dem Frühstück fährt Bo los, um die Namensliste abzuklappern, die wir von Frau Nolte-Aschendorff erhalten haben. Louisa schreibt Rechnungen und einige Mahnungen. Außerdem sieht sie die Post durch. Ich versuche Informationen über den Tod von Ingos Vater zu bekommen. Möglicherweise vertrödele ich hier bloß Zeit. Aber vielleicht ist an Bos Aversion gegenüber dem Nolte etwas dran. Normalerweise ist mein Tweety ein guter Menschenkenner.
Es dauert gar nicht lange und ich bin ein bisschen schlauer. Herr Lauritz Aschendorff ist an seinem fünfundvierzigsten Geburtstag ums Leben gekommen. Während einer Feier, die von seinen Mitarbeitern in dem Architektenbüro organisiert wurde, ist er betrunken eine Treppe hinunter gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Wie es der Zufall wollte, ist es ausgerechnet Nolte gewesen, der Aschendorff gefunden und den Notruf gewählt hat. Oder war es etwa gar kein Unfall? Immerhin ist dem Nolte durch diesen bedauernswerten Treppensturz das lukrative Architektenbüro wie ein reifer Apfel in den Schoß geplumpst. Plötzlich ist er der große Chef, der das Sagen hat, und kein Teilhaber, der wichtige Entscheidungen mit seinem Partner absprechen muss. Nebenbei tröstet er zuvorkommend die trauernde Witwe. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und knabbere am Ende meines Bleistifts herum. War der Sturz tatsächlich ein dummer Unfall? Da fällt mir Louisas Bluterguss auf der Wange ein, der zuerst auch nur ein Missgeschick gewesen ist und hinter dem dann doch weit mehr steckte. Und dieser Gedanke führt mich zu Bo und seinem Ausraster gegenüber Glatzen-Torben. Wäre jetzt nicht eine günstige Gelegenheit, um ein wenig in Tweetys Vergangenheit zu schnüffeln?
11:10 Uhr
Mit einem klitzekleinen Anflug von schlechtem Gewissen sitze ich vor dem Schuhkarton. Es ist Bos Karton, den er gleich bei seinem Einzug auf den Dachboden verbannt hat. Seitdem staubt er unangetastet vor sich hin. Ein Karton voller Erinnerungen. Behutsam hebe ich den schmutzigen Deckel ab. Auf einem Stapel Fotos liegt ein Abzeichen, das ich vorsichtig, wenn nicht sogar ehrfürchtig herausnehme. Es ist das Tätigkeitsabzeichen der Kampfschwimmer. Der Beweis dafür, dass Bo ein besonderer Mensch mit besonderen Fähigkeiten ist. Er hat mir einmal erzählt, dass er zum Abschluss seiner Einsatzausbildung dreißig Kilometer durch die Ostsee schwimmen musste. Ich bin durchaus nicht unsportlich, trotzdem wäre ich nach spätestens drei Kilometern auf Nimmerwiedersehen unter einer Welle verschwunden und Fischfutter geworden. Mit dem Finger fahre ich über den bronzenen Schwertfisch, ehe ich ihn behutsam in den Deckel des Schuhkartons lege und die Fotos an mich nehme. Ein etwas seltsam anmutender Bo blickt mir von den Bildern entgegen. Unwillkürlich muss ich lächeln. Sein heute wilder Lockenschopf ist auf militärische Form gestutzt und auf manchen Fotos sogar unter einem Helm verborgen, was Bo sehr fremd und verteufelt jung wirken lässt. Seine Waffen trägt er wie selbstverständlich bei sich. Zusammen mit seinem unbeschwerten, frechen Lächeln wirkt er unheimlich lässig auf mich. Langsam betrachte ich ein Bild nach dem anderen: Bo beim Schwimmen, beim Fallschirmspringen, wie er auf einem Übungsplatz auf ein Ziel anlegt und in voller Taucherausrüstung an einem Strand. Es ist mir ein Rätsel, wie man mit
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