Herbstfraß
denn für Regeln? Kannst du Schwein mir erklären …“
Ein Schuss kracht. Bo und ich zucken erschrocken zusammen. Das Projektil prallt an dem Beton ab und saust als Querschläger haarscharf an uns vorbei. Voller Todesangst klammere ich mich fester an Bo.
„Sie sollten mich nicht provozieren, Berger. Ich werde nicht wieder an die Decke schießen.“
Der stählerne Lauf zeigt mahnend direkt auf meinem Liebsten. In Ordnung, ich habe es kapiert. Still presse ich eine Handfläche gegen den blutenden Messerschnitt auf meiner Wange.
„Der Junge ist also aus dem Spiel ausgestiegen“, murmelt Nolte. Er wirkt ein wenig aus dem Konzept gebracht, fängt sich hingegen schnell. Dagegen bin ich mittlerweile durcheinander. Nolte wirkt tatsächlich so, als würde ihn Ingos Tod überraschen. Andererseits, wenn er ihn nicht umgebracht hat, wer dann? Ich drehe mich ein bisschen in Bos Arm, um die Lösung bei dem toten Jungen zu suchen und entdecke eine Kette, die sich tief in seinen Hals gegraben hat.
„Egal“, beendet Nolte sein Selbstgespräch. „Dafür habe ich jetzt Sie beide als neue Kandidaten. Und wir sollten keine unnötige Zeit verschwenden, sondern gleich anfangen, nicht wahr?“
Bo und ich wechseln einen beunruhigten Blick. Inzwischen geht mir der Arsch auf Grundeis. Ingo scheint das Spiel nicht gerade genossen zu haben und ich will nicht so enden wie er. Die Chancen in diesem Bunker umgebracht zu werden stehen allerdings nicht schlecht, denn – wie mir siedend heiß einfällt – niemand hat eine Ahnung, wo wir sind. Sonst geben wir immer Louisa Bescheid, wenn wir irgendwohin fahren. Nur ist Louisa ja bereits vorher in ihre Mittagpause gegangen.
„Alles wird gut“, flüstert Bo mir sehr eindringlich zu.
„Okay.“ Sonderlich überzeugt bin ich trotz seiner Worte nicht.
„Berger! Links von Ihnen steht eine Campingleuchte an der Wand. Schalten Sie sie ein.“
Bo nickt mir mit einem halbherzigen Lächeln zu. Ich weiß, dass er versucht mir Mut zu machen und dafür vergöttere ich ihn umso mehr. Angst habe ich trotzdem. Wenn man nach dem Spielen mit Nolte so aussieht wie Ingo in diesem Augenblick, möchte ich doch lieber nach Hause und fernsehen. Selbst wenn auf allen Kanälen der Musikantenstadl läuft.
„Berger, bewegen Sie sich!“ Die Stimme des Psychopathen hallt wie ein Peitschenschlag durch den Bunker. Er streckt den Arm mit der P8, die weiterhin auf Bo gerichtet ist, ein wenig weiter aus. Eine nachhaltige Drohung, die ihre Wirkung auf mich keineswegs verfehlt. In einer unterwürfigen Geste hebe ich kurz die Hände und bewege mich nach links. An der glatten Betonwand finde ich die angekündigte Campingleuchte. Sie hat einen Schalter an der Seite, den ich umlege, und schon wird dieser widerliche Kerker in warmes, gelbes Licht getaucht. Und in diesem Licht entdecke ich etwas, das besser in gnädiger Dunkelheit geblieben wäre. Auf der rechten Bunkerseite liegen zwei weitere blutverkrustete und verstümmelte Leichen sowie etliche Tierkadaver. Ich hätte es ahnen müssen. Ein Ingo alleine konnte unmöglich so stinken. Und dann wird mir richtig schlecht. Eine der Leichen hat eine Hand im aufgerissenen Mund stecken. Eine Hand, die aussieht, als wäre sie säuberlich wie ein Kotelettknochen abgenagt worden. Mir wird ganz schwindlig zumute. Die vielen Erkältungskapseln sind mir wohl tatsächlich nicht bekommen.
„Dot! Dot, sieh mich an.“
Ich schnappe nach Luft, was wegen des Gestanks keine besonders tolle Idee ist. Mein Blick saugt sich Hilfe suchend an Bo fest. In meinen Ohren rauscht es unangenehm und durch dieses heftige Rauschen höre ich Nolte hämisch lachen. Er lässt es aber zu, dass Bo zu mir kommt und mir mit seinem Körper die weitere Sicht auf die Leichen versperrt.
„Das nächste Mal verstecke ich mich schneller“, sage ich kläglich an seiner Brust.
„Natürlich, Dot.“ Bos Stimme klingt ganz sanft, ganz liebevoll.
Nolte meldet sich wieder zu Wort: „In der Tüte ist Panzertape. Holen Sie es raus, Berger.“
Tüte? Was für eine Tüte? Ich bin völlig durch den Wind und kann überhaupt nicht klar denken. Dabei steht die Tüte genau neben der Campinglampe, wie ich feststelle. Als ich darin nach dem Panzertape wühle, schneide ich mich an etwas Scharfem. Dieses Mal verkneife ich mir neuerliches Jammern, obwohl jetzt zusätzlich zu meiner Wange und dem Hals auch drei Finger bluten. Es ist wirklich nicht mein Glückstag. Mir wird bewusst, dass ich in eine fein gezahnte Säge
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