Herr des Chaos
den sie vor sich sah, und die Falle gar nicht bemerken, die er um sie herum aufbaute, bis es zu spät war. Die Zeit lastete auf ihm, all die Jahre seines Lebens, all die Monate, die er so verzweifelt benötigte, aber er würde seine Pläne nicht durch unnötige Hast selbst zu Fall bringen.
Der herabstoßende Falke schlug die große Ente in einer Wolke von Federn. Dann trennten sich die beiden Vögel wieder, und die Ente fiel schwerfällig hinab. Der Falke blieb fast in der Luft stehen und stieß dann erneut auf die fallende Beute herab, packte sie mit den Klauen. Das Gewicht der Ente hing schwer an ihm -nein, ihr; es war ein Falkenweibchen - aber sie flatterte rasch auf die Menschen zu, die unter ihr warteten.
Morgase fragte sich, ob sie dem Falken ähnlich sei: zu stolz und zu zielstrebig, um zu erkennen, daß sie sich an einer Beute festklammerte, die zu schwer war für ihre Schwingen. Sie bemühte sich, ihre Hände in den festen Handschuhen ein wenig von den Zügeln zu lösen, die sie verkrampft festhielt. Ihr breitkrempiger Hut mit den langen weißen Federn bot ihr ein wenig Schutz vor der unbarmherzigen Sonne, aber auf ihrem Gesicht stand trotzdem der Schweiß. In ihrem grünseidenen und goldbestickten Reitkleid wirkte sie nicht wie eine Gefangene.
Die langgezogene Weide mit dem vertrockneten braunen Gras war von Berittenen und anderen zu Fuß bevölkert. Eine Gruppe Musikanten in weißumsäumten blauen Wappenröcken mit Flöten, Zithern und Trommeln spielte eine beschwingte Melodie, die zu diesem Nachmittag und dem eisgekühlten Wein paßte. Ein Dutzend Falkner in langen, kunstvoll gearbeiteten Lederwesten über den bauschigen weißen Hemden streichelten die Falken mit den Häubchen auf den Köpfen, die sie auf den schweren Handschuhen trugen, oder sie pafften an kurzstieligen Pfeifen und bliesen ganze Wolken blauen Rauchs ihren Vögeln zu. Bunt gekleidete Diener gingen mit schwerbeladenen Tabletts herum und boten Obst an und Wein in Goldpokalen. Dazu kamen eine Reihe von Männern in schimmernden Rüstungen, die die Weide in geringem Abstand vor den meist kahlen Bäumen umstanden. Alles natürlich, um Morgase und ihrem ›Hofstaat‹ zu helfen und sie bei ihrer Beizjagd zu ›beschützen‹.
Nun ja, so lautete eben die offizielle Begründung, obwohl sich die Leute des Propheten gute zweihundert Meilen im Norden befanden und sich so nahe bei Amador bestimmt keine Räuber blicken ließen. Und trotz der Frauen, die sich auf ihren Stuten und Wallachen um sie scharten, angetan mit bunten Reitkleidern und breitkrempigen Hüten mit farbigen Federn, das Haar zu langen Locken gebrannt, wie es am Hof Amadicias gerade Mode war, bestand Morgases Gefolge in Wirklichkeit nur aus zwei Männern: Basel Gill, der sich plump und ungeschickt auf seinem Roß zur Seite verdrückt hatte und dessen Lederwams mit den aufgenähten Metallscheiben sich um seinen Bauch über dem rotseidenen Rock spannte, den sie ihm besorgt hatte, damit die Diener nicht besser aussahen als er, und Paitr Conel, der in seiner rotweißen Pagenuniform noch deplazierter wirkte und noch immer genauso nervös war wie damals, als sie ihm eröffnet hatte, er werde in ihrem Gefolge mitkommen. Die Frauen waren Adlige aus Ailrons Hofstaat, ›Freiwillige‹, die Morgase als Hofdamen dienen sollten. Der arme Meister Gill fühlte nach seinem Schwert und beäugte die Weißmantel- Wächter mit trostlosem Blick. Denn sie waren Wächter, obwohl sie gewöhnlich ihre weißen Umhänge nicht angelegt hatten, wenn sie mit Morgase aus der Festung des Lichts ritten. Wenn sie zu weit wegritt oder zu lange ausbleiben wollte, kam ihr Kommandant, ein junger Mann namens Norowhin mit harten Augen, der es nicht leiden konnte, etwas anderes als einen Weißmantel darzustellen, und ›schlug vor‹, sie sollten nach Amador zurückkehren, weil die Hitze zu stark werde oder weil plötzlich ein Gerücht aufgetaucht war, Banditen hielten sich in der Gegend auf. Man konnte sich nicht mit fünfzig Mann herumstreiten und dabei die Würde bewahren. Beim ersten Mal hätte Norowhin ihr fast die Zügel aus der Hand gerissen. Das war der Grund dafür, warum sie sich auf diesen Ritten niemals von Tallanvor begleiten ließ. Dieser junge Narr würde ihre Ehre und ihre Rechte noch verteidigen, und wenn er hundert Mann gegen sich härte. So verbrachte er seine freie Zeit damit, mit dem Schwert zu üben, als erwarte er, ihr den Weg in die Freiheit damit bahnen zu müssen.
Überraschend streichelte ihr
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