Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
Hass auf die Schatten einte sie. Alle Priester dienten den Göttern, und die Götter waren betrogen worden. Um die Welt, die sie geschaffen und den Menschen überantwortet hatten.
Nalaji fühlte die Kraft, die die Natur durchströmte, die im ständigen Pulsieren von Werden und Vergehen alles verband. Geburt und Sterben, Reifen und Vergehen, Wachsen und Verwesen, das Licht und die Dunkelheit. Aber nicht die Finsternis. Die Finsternis hatte hier, in der göttergewollten Wirklichkeit, keinen Platz. Sie war eine Kraft, die sich gewaltsam Einlass verschaffte, wo immer Magier den Lauf der Welt aus jenen Grenzen drängten, die dem Willen der Götter entsprachen.
Mit jedem Herzschlag vereinte sich Nalaji mehr mit dem Wollen der Götter, tanzte mit dem roten Mond, ließ sich von seinem Wesen durchdringen – warm, tatkräftig, entschlossen, manchmal ungeduldig. Dies war nicht die Zeit, nachzudenken und abzuwägen. Dies war eine Nacht, um zu handeln. Auch der Wind gehorchte den Göttern, denn er war Teil ihrer Schöpfung. Die Trommelschläge der Priester in den Hügeln ließen ihn drehen. Zuerst erkannte Nalaji es am Zug der Wolken, die nun nach Westen trieben, bis sie dem Blick entschwanden und einen sternklaren Himmel offenbarten. Nalaji breitete die Arme aus, als die Böen kamen und an Haar und Toga rissen. Die Zipfel ihres Gewands wurden über die Brüstung des Balkons hinausgeweht, als wollten sie über die Bucht davonfliegen. Hinter ihr im Saal stimmten die Priester ihre Gesänge an, manche sprachen auch nur Gebete.
»Gütige Mutter, die durch die Monde über uns wacht, schütze uns!«, betete sie. »In dieser Nacht stehen wir auf gegen die Blasphemie der Schatten. Wir senden die Dunkelheit gegen die Finsternis, um das Joch der Osadroi zu brechen. Deine Gnade und die deiner Geschwister hat die Aufrührer erreicht, nun beschirme uns, wenn wir danach trachten, ihre Schwerter zu stärken! Wer sollte eure Hymnen singen, wenn wir nicht mehr wären? Wir brauchen die Dunkelheit dieser noch jungen Nacht, um den Preis zu gewinnen, den ihr Götter uns verspracht. Helft uns, das Feuer auf den Feind zu schleudern, ohne selbst darin zu verbrennen!«
Zumindest den ersten Teil dieser Bitte erhörten die Unendlichen. Der Ostwind wurde zu einem Sturm, und er hatte seinen Ursprung nur zum Teil in der Welt des Greifbaren. Sein Rauschen drang an ihre Ohren, aber es toste auch durch Nalaji hindurch, denn diesem Orkan bot ihr Körper nur unvollständig Widerstand. Er raste durch ihre Seele. Dort hörte sie das Kreischen, das so anders war als die Anrufungen der Priester. Die Worte, die man jetzt schrie, waren älter als die Liturgien menschlichen Glaubens. Und keine Kehlen brüllten sie, sondern Seelen.
Die Seelen der Fayé, der Verdammten, die im Seelennebel östlich von Ejabon gefangen gewesen waren. Und die der von göttlicher Macht entfachte Sturm nun aus ihrem Verlies riss.
An der gesamten Küste gab es Schauergeschichten von einzelnen Geistern, die auf dem Ostwind geritten waren und Kinder ins Verderben gezogen hatten. Ob diese zutrafen oder nicht, konnte Nalaji nicht beurteilen, aber was in dieser Nacht geschah, hatte mit Sicherheit noch kein menschliches Auge geschaut.
Weiß wie Milch jagten sie über den Himmel. Den Ersten sah Nalaji klar und deutlich, wie einen großen, fallenden Stern. Er hatte die Gestalt eines Kopfes, der die Merkmale der Fayé aufwies: tropfenförmige, leere Augenhöhlen, ein Gesicht wie ein Keil, ein kleiner Mund, Ohrmuscheln, die so langgezogen waren, dass sich ihre Spitzen beinahe am Hinterkopf berührt hätten. Die Lippen waren leicht geöffnet. Aus ihnen mochte ein Stöhnen dringen, das sich mit dem alles übertönenden Schreien vermischte.
Dem ersten Kopf folgten weitere. Sie waren wie ein Heuschreckenschwarm. Die meisten Fayé rasten mit der Gewalt des Orkans nach Westen, wirbelten hinauf und herunter, flogen kurze Spiralen gleich heißem Rauch, der um das Gebälk eines Dachstuhls wallte. Einige fielen heulend vom Himmel, als schleuderten die Götter sie zu Boden. Doch es war nicht der Wille der Unendlichen, der ihr Handeln bestimmte. Es war der in Jahrtausenden gewachsene Hass auf die Menschen, jene, die von den Göttern bevorzugt wurden. Einige Geister schüttelten den Zwang ab, dem die Gebete der Priester sie zu unterwerfen suchten, brachen aus und fielen über die menschlichen Seelen her, derer sie habhaft werden konnten, auf den Schiffen oder in den Häusern der Stadt.
»Mondmutter,
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