Hesse-ABC
Genauso
wie er kunstfertiges Virtuosentum nicht mochte. Musik war für
Hesse also nie der gesellschaftliche Anlaß, sich und seine Garde-
robe zu zeigen, sondern immer intimes Gespräch mit dem Welt-
grund, der in uns nachklingt. Bis zu seinem Lebensende hörte
Hesse darum – trotz aller Technikskepsis – intensiv ↑ Radio . »Ich selber mache keine Musik, nur daß ich viel singe und pfeife. Aber
ich brauche stets Musik, und sie ist die einzige Kunst, die ich be-
dingungslos bewundre und für absolut unentbehrlich halte, was
ich von keiner anderen sagen möchte.« Es mag manchen erstau-
nen, aber es sind die alten Chinesen, von denen Hesse die Musik
am vollkommensten verstanden sieht. Vollkommene Musik, so hat
er bei ihnen gelernt, kommt aus dem Gleichgewicht: »Das Gleich-
gewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem
Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem, der den Welt-
sinn erkannt hat, über die Musik zu reden.« (Lü Bu We, »Frühling
und Herbst«) Diese Musik repräsentiert die Weltordnung, sie ist
darum nicht chaotisch, also maßlos-rauschhaft, wie er es bei
↑ Wagner und Brahms mißbilligt. Echte Musik ist für Hesse immer heiter. Der Steppenwolf Harry Haller muß es im Kapitel über das
»magische Theater« im skurril-surrealen Gespräch mit dem ewig
göttlich-kindlichen ↑ Mozart erfahren. Des Steppenwolfs deutsch-pathetischer Hang zu Buße und pathetischem Selbstmitleid ist bei
Mozart nicht gefragt, sondern allein der heitere Tanzschritt durchs
Leben. Noch in seiner Bodenseezeit wollte Hesse mit dem von
Othmar ↑ Schoeck ni cht vertonten Libretto ↑ » Bianca« die r omantische Oper erneuern. Er notiert über klassische und romantische
Musik: »Es gibt zweierlei Musik. Die eine klassisch, die andere
romantisch. Die eine ist architektonisch, die andere malerisch. Die
eine ist kontrapunktisch, die andere koloristisch. Wer wenig von
Musik versteht, genießt meist die romantische leichter. Die klassi-
sche hat keine solche Orgien und Räusche zu bieten wie jene, sie
bringt aber auch nie Dégout, schlechtes Gewissen und Katzen-
jammer.« Diese Trennung zwischen romantischer und klassischer
Musik scheint allerdings abstrakt. Dabei weiß doch keiner besser
als Hesse, daß sich Musik (wie alle Kunst) nie an schulmeisterliche
Klassifizierungen hält.
Während der Arbeit am »Glasperlenspiel«, seinem großen Musi-
kerziehungsroman, wendet sich Hesse jedoch nun fast ausschließ-
lich der klassischen Musik und dem Instrument des
Gottesdienstes, der ↑ Orgel zu. In der Mu sik wurzelt Hesses ganzes dichterisches Selbstverständnis. Dichten, das ist für ihn: Singen.
Seine in konventioneller Reimform im 19.-Jahrhundert-Mörike-Stil
geschriebenen Gedichte; es sind Lieder. Sie gehören zu jener
Hausmusik, die er früh zu einem Teil seines Lebens macht und bis
zu seinem Tode pflegt. Beständig denkt Hesse über Musik nach,
will ihr Wesen ergründen. Er hat es das Geheimnis der Musik ge-
nannt, »daß sie nur unsere Seele fordert, die aber ganz«. Was Mu-
sik nicht fordert, sind Intelligenz und Bildung, »sie stellt über alle Wissenschaften hinweg in vieldeutigen, aber im letzten Sinne immer verständlichen Gestaltungen stets nur die Seele des Men-
schen dar«. Hier traut er dem Laien ein besseres Urteilsvermögen
zu als dem professionell Geschulten. Musik, das ist mehr als bloß
subjektiver Stimmungsausdruck: der Anteil des Einzelnen an der
objektiven Weltmusik (»Sphärenmusik«), deren Töne in uns Reso-
nanz finden, wenn wir zu hören verstehen. So wird Musik für Hes-
se zum einzigen Lehrmeister, vor dem wir uns in Demut beugen
können (müssen), ohne uns zu verbiegen.
Musik besitzt Zauberkraft, sie ist für Hesse so etwas wie die
Stimme Gottes in uns selbst. Sie verwandelt uns, wird zur Quelle
allen Schöpfertums. Im »Steppenwolf« heißt es dazu: »Ja, das war
es, diese Musik war so etwas wie zu Raum gefrorene Zeit, und
über ihr schwang unendlich eine übermenschliche Heiterkeit, ein
ewiges göttliches Lachen.« Über sein Gedicht »Flötenspiel«
schreibt Hesse 1940, in der Schlußzeile kristallisierten sich seine
vieljährigen Spekulationen über das Wesen der Musik. Das Ge-
dicht endet: »Und alle Zeit ward Gegenwart.« Dies bedeutet nichts
weniger als die Unio mystica, die ästhetische erfahrbare »Identität
von Augenblick und Ewigkeit«. Ein Moment von hochbeschleunig-
ter Zeitstillstellung, lebendiges Paradox
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