Heute Und in Ewigkeit
Hillarys Adoptivschwester zu werden. Dann fragte ich mich, ob sie meine Gier nach ihrem Leben gespürt hatten und ob sie das abgeschreckt hatte. Vielleicht war Hillary deshalb verschwunden, nachdem sie mich zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Such dir eine andere ehrenamtliche Stelle, Liebes , hatten ihre Eltern in meinem eingebildeten Szenario gesagt. Dieses Mädchen klammert zu sehr. Nach meinem demütigenden Besuch bei Hillarys Familie hatte ich gelernt, mir nichts mehr anmerken zu lassen.
Als ich mich jetzt der Schlange junger Männer und Frauen anschloss, die die Treppe zur medizinischen Fakultät hochstiegen, erkannte ich niemanden, nicht einmal jemanden, zu dem ich Hallo sagen oder dem ich freundlich zunicken konnte. Seit ich mit dem Medizinstudium angefangen hatte, konzentrierte ich mich genau wie am College und in der Highschool ganz auf die Bücher und schloss keine richtigen Freundschaften. Heute wünschte ich, ich wäre freundlicher zu ein paar Leuten gewesen. Wer wünschte sich nicht ein bisschen moralische Unterstützung, wenn er einen Raum voll toter Menschen betrat?
Drinnen lief ich die Treppe in den Keller hinunter und ging in das Anatomielabor. Formaldehyd, frische Farbe und der Geruch von Angst umgaben mich. Alle standen da wie erstarrt und warteten darauf, dass der Professor das Wort ergriff.
»Meine Damen und Herren, ich bin Doktor Eli Haslett. Herzlich willkommen beim Tod.« Sein sanftes Lächeln zeigte uns, dass er uns nicht verletzen wollte, doch seine Worte ließen mich schaudern. Sein weißer Kittel war steif und sauber. Seine klare, rosige Haut passte nicht zu dem halb ergrauten Haar. Er hatte das Gesicht eines Mannes, der frei von Schuld ist und keinen Grund hat, die Toten zu fürchten.
»Bitte gehen Sie jetzt zu Ihren Tischen«, sagte er. »Die Tische sind mit Ihrer Gruppennummer beschriftet.«
Doktor Hasletts väterliche Stimme schien eigens dafür geschaffen, verängstigten Studenten dabei zu helfen, eine Leiche aufzuschneiden. Er nickte wohlwollend, während wir uns auf sterile Metalltische verteilten, auf denen unter blauen Tüchern jeweils eine Leiche lag.
Die meisten von uns hielten gelbe Zettel umklammert, unser Infoblatt zu Doktor Hasletts Einführung in die makroskopische Anatomie, Teil 1 . Auf meinem Zettel stand »Gruppe fünf: Ronald Young, Henry Yee, Marta Zayas und Louise Zachariah«.
Darunter kamen die persönlichen Hinweise. Doktor Hasletts Ratschläge, was wir anziehen sollten: Kleidung, die man hinterher wegwerfen konnte. Die beste Methode, den Formaldehyd-Gestank wieder loszuwerden: Spülmittel mit Zitronensäure. Er gab auch gefühlsmäßige Hinweise: Ihnen wird übel? Nehmen Sie Wick Vaporub. Schwindlig? Stecken Sie den Kopf zwischen die Knie. Sie packt das Grausen? Das geht vorbei. Er riet uns, im Falle einer emotionalen oder spirituellen Krise mit unserem Geistlichen, unseren Freunden oder der Familie zu sprechen, womit ich immer noch völlig in der Luft hing.
Als ich Tisch fünf erreichte, wurden meine Schultern steif.
Unter dem Tuch zeichnete sich der angedeutete Umriss eines menschlichen Körpers ab. Mein Versuchsobjekt schien sehr klein zu sein. Gütiger Gott, die haben doch keine Kinder an uns verteilt, oder? Henry Yee – wir alle trugen ein kleines Namensschild an unseren kurzen weißen Kitteln – nahm sofort den Platz an der rechten Schulter des Toten ein. Gab es an Leichen bessere und schlechtere Plätze? Ich nahm die linke Schulter des Spenders und war schon überzeugt davon, dass Henry, ein Chinese in einem tadellosen blauen Hemd, der in strammer Haltung dastand, mehr wusste als ich.
Marta Zayas und Ronald Young traten zu uns. Ronald streckte die Hand aus. »Ron.«
»Lulu«, sagte ich, ohne nachzudenken.
»Spitzname der Familie?«, fragte Ron.
Auf meinem Namensschild stand »Louise«.
Ich schüttelte den Kopf und erklärte Lulu damit zu einem dieser affektierten Namen wie Muffy, Kiki oder Puffy, die in den schnöseligen Privatschulen vorherrschten. »Aus der Schule.«
Ron nickte wissend und wechselte einen raschen Blick mit Marta, als wollte sich der Schwarze mit der Latina gegen die privilegierte Weiße verbünden. Tisch fünf war die UNO des Anatomiekurses, und ich würde die reichen Länder spielen. Marta lächelte mich herzlich an, und ich ließ mir einen kleinen Eisbrocken von der Schulter fallen.
Ich zitterte. Der Raum war kalt und fensterlos. Penetrant riechende Formaldehyd-Partikel drangen in meine Haut ein und bildeten einen
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