Hexen: Vier historische Romane (German Edition)
Disburg. Mein Elternhaus.
Das Tor zu meinen Kindheitserinnerungen öffnete sich nun weiter und weiter, wobei mir Raimund in seiner feinfühligen Art behilflich war. Auf unseren häufigen Spaziergängen und Ausritten in die bergreiche Umgebung entdeckte ich so manchen Ort, an dem ich mich einstmals mit meinen Eltern, mit Dietrich oder mit Spielkameraden aufgehalten hatte. Erwähnte ich bei Raimund diese oder jene schattenhafte Erinnerung, dann imitierte er die genannten Personen so lebendig, dass ich oft die seinerzeitigen Situationen deutlich vor Augen bekam. Er war hinreißend. Auch waren wir wieder so verliebt, wie in Zollern, und allzu schüchtern war er nun nicht mehr, also ein wenig schmusen taten wir schon. Selbstverständlich nur, wenn wir uns unbeobachtet wussten, da ich ja als Disentochter ein moralisch einwandfreies Leben zu führen hatte. Er wünschte mich zur Frau, das merkte ich wohl, doch da ihm klar war, dass ich zu solch einer Entscheidung noch nicht bereit sein konnte, hatte er bislang noch nie eine diesbezügliche Andeutung fallen lassen. Und auf meine Frage, ob es ihn nicht nach Zollern zu seiner künftigen Hochschule ziehe, hatte er mir erklärt, ich bedeute ihm mehr als alles andere. - Raimund, mein geduldiger, liebevoller, geliebter Raimund.
Nun warfen meine vielen Erinnerungen aber auch Fragen auf, die mir Raimund nicht beantworten konnte, und da ich weder Mutter, geschweige denn die empfindliche EM mit diesen Fragen behelligen wollte, musste ich mich alleine mit ihnen auseinandersetzen. Vorrangig beschäftigte mich der grausame Kindermord vor fünfzehn Jahren in der Nähe von Erlenrode, der solch lange und böse Folgen nach sich gezogen haben sollte. Ich entsann mich inzwischen jener Zeit, wusste wieder, dass unsere Eltern darüber häufig in Streit geraten waren. Was Dietrich und ich damals nicht begriffen hatten, war mir nun klar geworden, die Maid war vergewaltigt und dann erwürgt worden. Und der anschließende Exorzismus an der Kinderleiche, durchgeführt von dem noch heute in Erlenrode amtierenden Priester und von Vater gestattet, musste die Erlenroder aufgebracht haben. Wahrscheinlich war dies der Anstoß zu ihrem Hass auf den Priester wie auch auf Vater gewesen.
Meine Überlegungen setzten sich fort. Auch ich war ein Jahr später vergewaltigt worden, hätte Vater dann auch an mir einen Exorzismus durchführen lassen? Zweifelsohne, musste ich folgern, denn in seinen Augen hätte ich nur durch eine Teufelsaustreibung von dieser Schande und Sünde gereinigt werden können. Daher war ich mir auch ziemlich sicher, dass Mutter mich all die Jahre vor niemand anderem, als meinem eigenen Vater im Odenborner Kloster verborgen gehalten hatte. Ein schockierender Gedanke. Doch Gewissheit darüber kann ich nur von Dietrich gewinnen, weshalb ich mir vornahm, ihn bei meinem nächsten Besuch auf seinem Gut darauf anzusprechen.
D ie Woche drauf traf ich in Erlenrode ein. Ich kam stets gerne hierher, da ich bei dieser Gelegenheit meist auch Marlis, Jörg und ihren kleinen Tim besuchte und mich täglich ein wenig mit Elgrin unterhielt, die ihre Position als Leiterin der Küche einwandfrei beherrschte.
Am Abend nach meiner Ankunft saß ich mit Bertrada und Dietrich in einem gemütlichen Plauschraum bei Wein und Käsegebäck. Um von Dietrich Mutters Gründe für meine Klosterverbannung zu erfahren, lenkte ich die Aufmerksamkeit der beiden zunächst auf meinen Saphirring: „Seht, den hat Mutti früher an ihrem Finger getragen, und per Zufall ist er vor zwei Jahren in meine Hände gelangt.“
Dietrich sah mich erstaunt an: „Du bist ein einziges Rätsel, Dorith, zufällig gerätst du an Mutters Ring, und zufällig gelangst du dann auf Vaters Gut. Wie kann sowas angehen?“
„Hexenkunst, mein Lieber“, gab ich augenzwinkernd zurück, erklärte aber gleich drauf: „Nein, ich hatte zwar mein Gedächtnis eingebüßt, doch dafür ist mein Unterbewusstsein umso lebendiger geworden und hat mich letztendlich hierher geleitet. Mutti hat sich darüber nicht gewundert, sie kann das nachvollziehen.“
Bertrada und Dietrich konnten es nicht, sie sahen mich an, als sei ich ein Fabelwesen. Ich lachte über ihre Gesichter und kam dann auf unsere Kindheit zu sprechen, worauf Dietrich unverzüglich einging. Als ich aber wissen wollte, welche Art Unfall Johannes erlitten hatte, wurde er still, brachte nicht ein Wort mehr hervor. Ich war verwirrt, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Doch Bertrada rettete die
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