Hexen: Vier historische Romane (German Edition)
fortgefahren: „Alle Körper zusammen und jeder für sich, füllen die sie umgebende Luft mit einer unendlichen Zahl ihnen ähnlicher Bilder, die insgesamt die Atmosphäre ausmachen. Sie sind in all ihren Teilen vorhanden und tragen die Natur wie auch die Ursachen ihrer Farben und Formen in sich. - Übe geduldig, Lukas, dann wird sich dir dieses Phänomen eines Tages ebenfalls erschließen. Deine Seele wartet nur darauf.“
Nachdem er dann gegangen war, hatten seine Zuhörer noch lange über diese Erläuterung nachsinnen müssen, wobei Ambrogio geäußert hatte: „Ich kann mir nicht denken, von einem anderen Maestro dell’Arte solche Weisheiten zu erfahren.“
Und alle hatten seine Meinung geteilt.
Seit dieser Erläuterung reizte es Lukas zwar, dem geschilderten Phänomen nachzuspüren, doch er wagte es nicht, weshalb seine Malstudien weiterhin stümperhaft ausfielen.
Ein wenig ausgleichen konnte Lukas diesen Mangel glücklicherweise im Bildhaueratelier mit seinen Terrakottafiguren und einem begonnenen Säulenfuß in Marmor, was ihm alles recht gut gelang. Auch in der Gießerei stellte er sich zu seinem eigenen Erstaunen nicht schlecht an. Dort durfte er inzwischen sogar schon seine eigenen in Ton geformten, Tier-, Menschen- und Fabelfiguren in Metall gießen, und den fünf dort beschäftigten Künstlern sagten seine fertigen Produkte zu.
Doch so erfreulich diese Tatsache war, bei seiner Malerei hatte er sich hilflos in ein Netz verstrickt.
Heute stellte ihm der Maestro eine Vase mit selbst geschnittenen rosa Rosen auf seine Arbeitsplatte, mit der Aufforderung, sie abzumalen. Darauf gestand ihm Lukas: „Das bringe ich nicht fertig, Maestro Leonardo, ich kann nur aus der Erinnerung oder der Vorstellung heraus schaffen.“
„Dazu bist du imstande? Das ist ja weit wertvoller. Und wie geht das bei dir vor sich, kannst du mir das schildern?“
„Ich will es versuchen“, antwortete ihm Lukas zaghaft und begann: „Wenn ich mich intensiv auf eine mir bekannte Person, Situation oder Sache konzentriere, wird sie in meinem Inneren lebendig. Ich nehme sie mit allen Sinnen wahr, erfühle und begreife sie viel deutlicher, als ich das mit meinen körperlichen Augen könnte. Dementsprechend würden dann meine Bilder ausfallen, was ja nicht Sinn meiner Malstudienen wäre.“
„Oh doch, Lukas, genau das wäre der Sinn. Was du eben geschildert hast, nennt man universelle Vorstellungsgabe, die Vorstufe zur Kontemplation. Derer sollst du dich fortan beim Malen bedienen. War es das, was du so eisern unterdrückt hast?“
„Ich . . , ich weiß nicht.“
Der Maestro lächelte: „Sei’s drum. Jedenfalls wirst du auf diese Art nun auch diese Rosen auf den Malkarton zaubern können, oder?“
„Das schon, die Frage nur, was dabei herauskommt.“
„Darauf lassen wir es ankommen.“
Seitdem arbeitete Lukas auf die vom Maestro gewünschte Weise an dem Rosengemälde, heute bereits den dritten Tag. Dabei legte er kaum Wert auf die äußere Form der Rosen, vielmehr brachte er ihr Innenleben zum Ausdruck, ihr blumenhaftes Empfinden, ihre Keuschheit wie auch ihr Streben nach Sonnenlicht.
Der Maestro hatte sich das Bild bereits mehrmals betrachtet, sich aber nicht dazu geäußert. Auch Bernardino und Giovanni, die Lukas sonst stets Ratschläge erteilten, ließen ihn kommentarlos gewähren. Da Lukas diese neue Haltung seiner Ausbilder verunsicherte, bat er Carlo um seine Meinung zu dem begonnenen Bild.
„Es wird dein bisher bestes Gemälde“, meinte Carlo, „wirklich, es bezaubert schon jetzt. Die Rosen sind so zart, so lebendig, dass man förmlich ihren Duft wahrnimmt.“
Diese Aussage hätte Lukas erfreuen sollen, stattdessen lehnte er sich gegen sie auf - Bezaubernd, zart, ausgerechnet! Das hätte mir nicht passieren dürfen! Und wie gehe ich jetzt weiterhin vor?
A m gleichen Abend setzte sich Lukas in seiner Guten Stube mit diesem Problem auseinander. Er wusste selbst, dass die von seinem Maestro verlangte Malweise künstlerischer war als alles, was er bisher hier geboten hatte, doch ich darf sie nicht anwenden, mahnte er sich nun abermals. Andererseits wusste er, dass es ein Fehler wäre, wieder in den harten Malstil zu verfallen, damit würde er den Maestro geradezu beleidigen. Er müsste einen Kompromiss finden.
Einen Kompromiss, dazu hatte er sich bereits bei seiner Fluchtvorbereitung entschlossen, gegen Alphonses eindringliche Warnung.
Nun glitten seine Gedanken weit in die Kindheit zurück.
Er bekam vor Augen, wie er als Kind
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