Hexenkind
Müdigkeit entgegenzutrinken. Er konnte einfach nicht erwarten, in ungefähr zwanzig Stunden in Montefiera vor ihr zu stehen und zu sehen, wie sie vor Glück fast verrückt wurde. Und vielleicht schaffte er es ja sogar, in der Vorfreude auf diesen Moment bis zu seiner Weihnachtsüberraschung trocken zu bleiben.
Das gleichförmige Rattern der Räder auf den Schienen war wie ein vorgegebener Rhythmus, und in seinem Kopf entstand eine Melodie während er einschlief.
65
Edi hörte gar nicht mehr auf zu hüpfen, als er sah, dass Elsa aus dem kleinen Fiat stieg, der vor der Haustür hielt. Er sah aus wie ein riesiges Schwein, warf seine dicken Arme in die Luft und hinter den Kopf, sodass er durch den Schwung beinah auf den Rücken fiel. Dazu schrie er vor Freude wie eine junge Ratte, die in der Falle hängt.
Er tut ja so, als wäre ich Jahre nicht mehr hier gewesen, dachte Elsa und küsste Edis Glatze. Er lachte glucksend und drehte sich hin und her wie ein Pfau, der sich anschickt, ein Rad zu schlagen.
Romano kam mit offenen Armen angelaufen, umarmte sie und führte sie ins Haus, wo ihre Mutter am Kamin stand. Blass und schmal und unsicher. Elsa und Sarah sahen sich an, dann ging Sarah auf Elsa zu, nahm sie in die Arme und flüsterte: »Wie schön, dass du gekommen bist.« Sie küsste Elsa aufs Haar, die stocksteif und unbeweglich dastand und es über sich ergehen ließ.
Sarah hatte das Haus mit viel Mühe in ein weihnachtlich geschmücktes, gemütliches Heim verwandelt. Tannenduft lag in der Luft, in den Fenstern, auf dem Tisch, der Kommode – überall brannten Kerzen. Obwohl die Weihnachtsmotette von Luigi Calandrelli leise durch die Räume wehte,
schoss die Sopranstimme wie ein brennender Schmerz durch Elsas Kopf von Schläfe zu Schläfe. Ihre Mutter hatte nie etwas für klassischen Gesang übrig gehabt – es war Antonios Musik.
Auf der Couch im Wohnzimmer saßen Enzo und Teresa. Obwohl es ihm sehr schwerfiel, stand Enzo auf, als sie hereinkam, und umarmte sie. Verdammt noch mal, ich hab dich vermisst, Opa, dachte sie und legte ihren Kopf an seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Sein Herz schlug langsam und fest, und das beruhigte sie, denn plötzlich hatte sie Angst, er könne sterben, ohne dass sie ihm gesagt hatte, wie sehr sie ihn liebte.
Teresa kaute auf einem Plätzchen herum, als Elsa sie auf die linke und die rechte Wange küsste.
»Wie geht es dir, Kind?«, fragte sie, und ihre Stimme klang gütig und weihnachtlich.
»Gut. Danke. Sehr gut. Alles klar.« Elsa spürte, dass dies alles ein bisschen zu viel war, als dass man ihr glauben konnte, aber sie lächelte Teresa zu, und dabei fiel ihr ein, dass sie ihr eigentlich einen neuen Rosenkranz hätte schenken können. Sicher hätte sich Teresa gefreut, denn vielleicht machte das Rosenkranzbeten durch die kleine Abwechslung ein paar Tage lang etwas mehr Spaß.
Edi schlürfte aus einem großen Becher Kakao, während alle anderen Caffè und Vin Santo zum Gebäck tranken. Mit dem Kakao in der Hand wippte er auf dem Sofa auf und ab und strampelte mit den Füßen, bis sich der Kakao über Sofa, Tischdecke und Edis Pullover ergoss, weil er vergessen hatte, dass er einen Becher in der Hand hielt, und ihn einfach fallen ließ. Das war für ihn Anlass, in schrilles Gelächter auszubrechen, nur unterbrochen von hohen Quietschtönen.
»Du kannst gerne rausgehen, wenn du dich langweilst, Edi«, meinte Romano betont ruhig, während Sarah in die Küche lief, um Eimer und Lappen zu holen.
Edi sprang begeistert auf, stieß eine Kerze um, die aber lediglich eine Serviette in Brand steckte, und rannte aus dem Zimmer.
Danach war Ruhe. Ein paar Augenblicke Friede bei den Simonettis. Teresa schwieg ausnahmsweise, und Sarah hatte einen Dauerlächler im Gesicht. Elsa bemerkte, dass Enzo große Schmerzen hatte. Sein Rheuma wurde immer schlimmer. Es fiel ihm schwer, vom Stuhl aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen.
»Was gibt es Neues in Siena?«, fragte Romano. »Was macht das Studium?«
»Ich habe mich verliebt«, erklärte Elsa, »aber das hab ich dir ja schon am Telefon erzählt, und mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
So gegen halb sechs räumte Teresa das Kaffeegeschirr ab. Draußen war es bereits stockdunkel. Elsa hockte vor dem Regal und suchte eine CD, als Edi tränenüberströmt ins Zimmer stürzte. Er hatte sein Kaninchen auf dem Arm, setzte es aufs Sofa und war vollkommen verzweifelt, dass es immer wieder umfiel wie ein schlaffer Sack. Das
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