Himmel ueber fremdem Land
stieß sich das Kindermädchen von der Brüstung ab und öffnete die Tür, die sie nun lange genug angestarrt hatte. Tilla stand in dem gemütlichen, ohne viel Pomp eingerichteten und hauptsächlich in weiß gehaltenen Raum an einem der Fenster und blickte auf den Kanal hinunter. Sie hatte weder das von Nadezhda bereitgestellte Gebäck noch den Tee angerührt.
Bei Ankis Eintreten drehte sich Tilla zu ihr um. Ihr Gesicht war auffällig bleich, ihre Augen flackerten unruhig. »Deine Schützlinge sind wirklich niedlich. Ich freue mich, dass du es so gut getroffen hast: respektable Arbeitgeber, die dir offensichtlich völlig vertrauen, aufmerksame Bedienstete mit einem klaren Blick dafür, dass du nicht ihresgleichen bist. Jetzt fehlt nur noch ein strammer junger Mann, vielleicht sogar aus dem Adel stammend und voller Bewunderung und Zuneigung für dich …«
Eher verlegen als erfreut lächelte Anki und setzte sich auf einen weißen Holzstuhl vor den Kamin, dessen Sims mit einer bunten Tabakdosensammlung geschmückt war. »Ich lasse mir damit lieber noch etwas Zeit. Immerhin bin ich erst siebzehn und möchte noch ein paar Jahre meine eigenen Entscheidungen treffen und zudem für die Chabenski-Mädchen da sein.«
»Glaubst du denn, die Frau ist in der Ehe vollständig von den Entscheidungen des Ehemannes abhängig?«
Anki wich Tillas strengem Blick aus. Sie wollte ihre Schwester nicht demütigen, glaubte sie doch, genau die von ihr gefürchtete Bevormundung vonseiten Josephs erspürt zu haben.
»Ich weiß nicht, wie das in Deutschland gehandhabt wird, liebe Tilla. Vermutlich kommt es auf den Ehemann selbst an, nicht?«, erwiderte sie ausweichend.
Ihre Schwester blickte erneut aus dem Fenster, wobei Anki sich fragte, ob es dort viel zu sehen gab. Die Strahlen der Sonne reichten längst nicht mehr über die Häuser und Türme hinweg; in St. Petersburg breiteten sich die abendlichen Schatten aus, legten sich zwischen die Gebäude und Mauern und verbargen selbst die prunkvollsten Fassaden, erhabensten Säulen und ansehnlichsten Brücken, Statuen und Parkanlagen hinter tristem Schwarz.
Wehmütig betrachtete Anki den ihr zugewandten Rücken. In ihrem modernen himmelblauen Spitzenkostüm mit der weißen, mit Seidenrosen verzierten Schärpe sah Tilla wunderschön aus, dennoch gefielen Anki weder ihre hängenden Schultern noch ihre blasse Gesichtsfarbe und die dunklen Ringe unter ihren Augen.
Wie schon während des Nachmittags setzte sich ein Ziehen in Ankis Magengegend fest. Bisher war Tilla immer diejenige gewesen, die sich um ihre jüngere Schwester gekümmert hatte. Nun wirkte sie selbst, als bräuchte sie Hilfe. Tilla war frisch verheiratet und auf ihrer Hochzeitsreise. Sollte eine jungvermählte Frau nicht vor Lebensfreude und Glück förmlich sprühen?
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, wagte Anki leise zu fragen.
Sie wartete darauf, dass Tilla sich wieder zu ihr umdrehte. Entweder, um ihr zu berichten, wo es ihr fehlte oder aber um ihr zu versichern, dass sie lediglich von der Reise müde, vielleicht auch krank sei. Doch nichts von alledem geschah. Abweisend wandte Tilla ihr weiterhin den Rücken zu und regte sich erst, um ihr mitzuteilen, Joseph sei in einer Kutsche vorgefahren, um sie in ihr Hotel zurückzubringen.
»Ich begleite dich hinunter und wir planen mit deinem Mann ein Treffen für morgen.«
Ihre Schwester lächelte ihr freudlos zu und schwebte an ihr vorbei, aus der offen stehenden Tür und über die geschwungene Treppe in das Foyer hinunter. Im Eingangsbereich wurden sie bereits von Joseph erwartet, der ungeduldig mit seinem Spazierstock auf das Parkett klopfte, während Jakow Tillas Mantel brachte, um ihr beim Anziehen behilflich zu sein.
»Verabschiede dich gleich richtig, liebe Tilla. Wir verlassen die Stadt. Unser Gepäck befindet sich bereits in der Droschke.«
»Aber Joseph, wir wollten doch erst in zwei Tagen in Richtung Krim abreisen. Unser Schiff legt nicht vor nächster Woche ab.«
»Manchmal ändern sich Pläne eben kurzfristig«, lautete seine knappe, nicht eben freundlich vorgebrachte Begründung. Eilig fügte er hinzu: »Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann und deshalb natürlich viel mehr darauf eingestellt, kurzfristige Änderungen hinzunehmen als du, liebe Tilla. Die Mühe des Packens habe ich dir mithilfe einer Hotelangestellten abgenommen, sodass du dich ganz beruhigt in die Droschke in Richtung Nikolajbahnhof setzen kannst.«
»Entspannt? Wie kann ich entspannt
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