Historical Lords & Ladies Band 38
war merkwürdig, dass jedes Mal, wenn von Sir Jasper Lynley die Rede war, gleichzeitig seine Nichte erwähnt wurde. Falls das Mädchen wirklich ein solcher Ausbund weiblicher Tugend war, würde sie sich wohl kaum als Spionin für Napoleon missbrauchen lassen. Nick musste das Thema wieder auf Sarahs Onkel bringen.
„Sir Jaspers Ländereien grenzen an meinen Besitz, ich hatte jedoch noch keine Gelegenheit, seine Bekanntschaft zu machen. Man sagte mir, er halte sich zurzeit in Tunbridge Wells auf. Stimmt das?“
„Er ist am Tag vor Ihrer Ankunft vor drei Wochen abgereist“, bestätigte Mr Butterlow. „Allerdings habe ich gestern Abend seine Kutsche gesehen. Ich nehme daher an, dass er wieder zurück ist. Er wird Sie sicherlich bald bitten, ihn aufzusuchen. Sir Jasper geht nur noch selten aus, legt jedoch Wert auf gutnachbarliche Kontakte.“
„Die Lynleys leben also sehr zurückgezogen“, stellte der Earl fest. „Das dürfte für die junge Dame doch ziemlich langweilig sein.“
„Nun“, gab der Pfarrer zögernd zu, „Miss Lynley ist nicht mehr ganz so jung. Das soll natürlich nicht heißen, dass sie nicht nach wie vor ein sehr anmutiges Geschöpf ist. Sie macht einen durchaus glücklichen Eindruck.“
Trotz dieser Lobeshymne gewann man den Eindruck, als bereite gerade der Umstand, dass Sarah Lynley mit ihrem Leben zufrieden zu sein schien, dem Pfarrer große Sorge. Es war wie bei den Nachbarn. Auch sie seufzten oder brachen das Gespräch ab, sobald jemand mehr über diese Miss Lynley erfahren wollte.
Als die Haushälterin dem Pfarrer einen anderen Besucher meldete, nutzte Nick die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Er war mit seinen Ermittlungen keinen Schritt weitergekommen.
Auf dem Heimweg dachte der Earl weiter über Sir Jasper nach. War er wirklich der zurückgezogen lebende, gesundheitlich angeschlagene alte Mann, oder war er der Spion, auf den Nick angesetzt war? Und was war mit seiner Nichte? Warum vermittelten alle den Eindruck, als wäre sie zu bedauern?
Die Dienstboten, die Nick bereits über die Lynleys befragt hatte, reagierten ähnlich. Peake, der alte Reitknecht seines Großvaters, der inzwischen im Ruhestand war, hatte ein Loblied auf Sarah angestimmt, weil sie sich so liebevoll seines Rheumatismus annahm. Dann hatte er, ähnlich wie der Pfarrer, das Gespräch mit einem abgrundtiefen Seufzer beendet. Auch die Haushälterin hatte Miss Lynleys Nächstenliebe gerühmt, war jedoch rasch wieder verstummt und hatte leise hinzugefügt: „Wenn man bedenkt, was Miss Sarah …“
Selbst Lord Fishbourne, dessen Ländereien ebenfalls an Comberford Place grenzten, verfiel in Schweigen, nachdem er zunächst bereitwillig einige Fragen zu Sir Jaspers Karriere beim Militär beantwortetet hatte. In Bezug auf Sarah Lynley meinte er lediglich, dass sie alles hätte, was sich ein Mann von einer Frau wünschen konnte. Als Nick nachhakte, erwiderte er nur: „Heutzutage scheint manch junge Dame unbedingt ledig bleiben zu wollen.“
Nick gab seinem Pferd ungeduldig die Sporen. Er hatte den Auftrag, in Sussex nach dem verhassten Vaterlandsverräter zu suchen, zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt erhalten. Nachdem sein älterer Bruder vor einem Jahr ohne Nachkommen gestorben war, hatte Nick alle Hände voll zu tun gehabt, in Ravensdene Hall Ordnung zu schaffen. Nicks Vorgesetzte waren allerdings der Ansicht, dass eine Inspektionsreise nach Comberford Place eine hervorragende Tarnung wäre.
Obwohl er durch die Verpflichtungen, die Besitz und Titel mit sich brachten, sehr in Anspruch genommen war, musste man ihn nicht lange überreden. Er verspürte eine wachsende Ruhelosigkeit, wollte sich aber nicht eingestehen, dass er sein früheres gefahrvolles Leben vermisste.
Inzwischen war ein heftiger Sturm aufgezogen. Regen peitschte auf Ross und Reiter nieder. Nick schrak aus seinen düsteren Gedanken auf. Der Himmel verdunkelte sich. Wenn er sein Anwesen heil erreichen wollte, musste er sich beeilen.
Auch Sarah Lynley wurde unvermutet von dem Unwetter überrascht. Sie hastete die Stufen vom Strand zur Uferstraße hinauf. Der Sturm trieb schäumende Wellen an Land und hätte ihr beinahe den Hut vom Kopf gerissen. Der abgetragene rote Umhang, den sie um ihre Schultern geschlungen hatte, war durch den Regen schon bald durchnässt. Sie musste möglichst schnell den nahe gelegenen Wald erreichen.
Wenig später verwünschte sie ihren Leichtsinn, in dem Wald Schutz zu suchen, den sie seit acht Jahren ganz bewusst
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