Historical Saison Band 20
hätte Claudine ihn nicht als Treffpunkt gewählt. Sie musste selbstironisch lächeln. In ihrem früheren Leben wäre es undenkbar für sie gewesen, auch nur in die Nähe eines solchen Ortes zu gehen. „Aber das war in einem anderen Land“, sagte sie leise, „und das Mädchen von damals lebt nicht mehr.“
Unwillkürlich legte sie eine Hand auf das Retikül in ihrem Schoß, wo sie die darin versteckte Pistole spüren konnte. Es war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Bisher hatte Claudine sie niemals gebraucht, aber die Tatsache, sie im Notfall zur Hand nehmen zu können, beruhigte sie. Entschlossen zog sie sich die Kapuze über, stieg aus und bezahlte den Kutscher. Während der Wagen davonrumpelte, eilte sie die Stufen zum Eingang hinauf und griff nach dem Klingelzug.
Die Tür wurde von einem Lakaien geöffnet, der offensichtlich wegen seiner Größe und Kraft eingestellt worden war. Die gebrochene flache Nase verriet, dass ihr Besitzer einst ein Preisboxer gewesen sein musste. Er musterte die Besucherin einen Moment lang eindringlich, und als er sie erkannte, grüßte er sie mit einem Nicken. Claudine trat in die hell erleuchtete Eingangshalle und hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel.
„Wer ist es, Raoul?“ Die Stimme kam von der Treppe ihnen gegenüber. Ein leises Lachen erklang. „Sieh mal einer an! Wer hätte das gedacht?“
Die Frau auf dem Treppenabsatz schaute lächelnd nach unten. Kleid und Frisur waren elegant und das Gesicht sorgfältig geschminkt. Im dezenten Licht, das die scharfen Linien um ihren Mund kaschierte, erschien Madame Renaud jünger als ihre zweiundvierzig Jahre. Doch trotz der wohlklingenden Süße in ihrer Stimme lag nichts Sanftes in ihrem Blick. Beunruhigender war allerdings, dass sie sich aus irgendeinem Grund zu amüsieren schien.
Claudine entschied sich, es zu ignorieren. „Ich bin aus geschäftlichen Gründen hier, Madame.“
„Sind wir das nicht alle?“ Madame Renaud deutete ihr mit einer Kopfbewegung an, die Treppe heraufzusteigen.
Gleich darauf war Claudine bei ihr. Mit abschätzenden Blicken nahm Madame jede Einzelheit ihres Äußeren auf – vom feinen Stoff ihres Umhangs bis zu dem Kleid darunter. Zweifellos rechnete sie dabei deren Wert bis auf den letzten Centime aus. Das Gesamtbild war unaufdringlich, aber eindrucksvoll, was Madame Renauds Neugier nur anzustacheln schien.
„Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht mein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen“, bemerkte sie schließlich.
„Wie ich schon sagte, bin ich wegen anderer Geschäfte hier.“
„Sehr schade. Mit Ihrem Aussehen könnten Sie ein Vermögen verdienen.“ Madame blickte flüchtig in den Raum hinter ihnen, in dem ein halbes Dutzend Mädchen in hauchdünnen, fast durchsichtigen Kleidern lachten und miteinander plauderten. Es war noch früh. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte zehn Minuten vor acht an.
„Sie meinen, ich könnte für Sie ein Vermögen verdienen“, entgegnete Claudine ohne Groll und ganz sachlich.
Madame nickte. „Sie würden einen fairen Anteil bekommen, das schwöre ich.“
„Sollte ich mich je entschließen, diesen Weg einzuschlagen, lasse ich es Sie wissen.“ Claudine überreichte ihr einen Beutel, den sie in der Tasche ihres Umhangs versteckt hatte. „Ist er schon hier?“
Madame betastete den Beutel, als könnte sie seinen Inhalt abwiegen, und lächelte schwach. „Hier entlang.“
Sie folgten einem Gang, von dem zu beiden Seiten mehrere Türen abgingen. Hinter einigen davon hörte Claudine gedämpfte Stimmen, männliche und weibliche, und andere, aufwühlendere Geräusche, die ihr einen ungewohnten Schauer über den Rücken rieseln ließen. Oft hatte sie sich gefragt, wie es sein musste, mit einem Mann das Bett zu teilen. Ihre Gouvernante hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, welche Pflicht eine Frau in dieser Hinsicht hatte. Und als Witwe hatte Mrs Failsworth sicher gewusst, wovon sie sprach.
„Intimitäten ganz bestimmter Art sind ein unvermeidlicher Aspekt des Ehestands, meine Liebe, und obwohl eine vornehme Dame kaum Vergnügen daran finden kann, muss sie dem Willen ihres Gatten in jeder Hinsicht gehorchen.“ Und dann hatte sie mit dem größten Feingefühl erklärt, worin dieser Gehorsam bestand. „Die Zeugung von Kindern ist der Zweck einer jeden Ehe, und es ist die Pflicht der Frau, ihrem Mann Erben zu schenken. Selbstverständlich ist die Geburt eine schmerzhafte und gefährliche Angelegenheit. Viele Frauen sterben bei der
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