Hoellennacht

nicht, dass Sie in Wirklichkeit zweihundert Jahre alt sind«, meinte Nightingale und stellte seine Aktentasche neben sich auf den Tisch. » Oder dass auf Ihrem Speicher ein Bild von Ihnen steht, das langsam vergreist.«
    Wainwright lachte. Zwei hübsche Blondinen in zueinanderpassenden, holzkohlegrauen Armani-Anzügen standen hinter ihm. » Darf ich Ihnen einen Drink anbieten, Jack?«, fragte er mit seinem schleppenden Akzent.
    » Ein Whisky wäre schön.«
    » Ein Mann nach meinem Geschmack.« Wainwright drehte den Kopf nach hinten. » Zwei Whisky, Darling«, sagte er. » Glenlivet.« Er sah Jack an. » Einverstanden?«
    » Nach meiner Erfahrung ist jeder Single Malt, der mit einem G oder einem M anfängt, eine Empfehlung wert«, sagte Nightingale. » Meinen bitte mit Eis«, forderte er die Stewardess auf, die ihm ein weiß blitzendes Lächeln zuwarf.
    Das Flugzeug stand auf dem Vorfeld des Terminals für Privatflugzeuge des Stansted Airport. Eine schwarze Mercedes-Stretchlimousine hatte beim Terminal auf Nightingale gewartet, und ein uniformierter Chauffeur hatte ihn zur Gulfstream gefahren. Das Flugzeug war mit vier weißen Ledersesseln, einem dreisitzigen, weißen Ledersofa, einem großen LCD - TV -Bildschirm an der Trennwand zum Cockpit und großflächigen Panoramafenstern teuer ausgestattet.
    » Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten, Jack?«, fragte Wainwright.
    » Ich bin Zigarettenraucher«, sagte Nightingale. » Darf ich hier rauchen?«
    » Es ist mein Flugzeug, wir können tun, was wir wollen.«
    Nightingale nahm sein Päckchen Marlboro heraus und steckte sich eine an. Die zweite Stewardess stellte einen großen Glasaschenbecher neben seine Aktentasche.
    » Sie sind also Ainsley Goslings Sohn?«, fragte Wainwright. » Wie kommen Sie mit seinem Tod zurecht?«
    » Wir haben uns nicht nahegestanden«, antwortete Nightingale. Die Stewardess servierte ihm seinen Whisky und schenkte ihm ein weiteres strahlendes Lächeln.
    » Aber er hat Ihnen seine Bibliothek hinterlassen?«
    » Er hat mir alles hinterlassen«, sagte Nightingale.
    Wainwright deutete mit seiner Zigarre auf Nightingales Aktentasche. » Ist es da drin?«
    Nightingale nickte. » Ich habe eine Weile gebraucht, es zu finden, sein Ordnungssystem ist mir noch nicht klar. Alphabetisch ist es jedenfalls nicht.« Er stellte das Glas beiseite, legte die Zigarette weg und griff nach der Aktentasche. Wainwright leckte sich die Lippen, als Nightingale das Buch herausholte. Es war fast sechzig Zentimeter hoch, knapp einen halben Meter breit und gut fünf Zentimeter dick. Die Seiten waren vergilbt und der weiße Ledereinband rissig und verblasst. Nightingale hatte beinahe drei Stunden gebraucht, um es im Keller zu finden. Da der Titel auf vielen Buchrücken nicht zu sehen war, hatte er die Bücher eins nach dem anderen herausnehmen und aufklappen müssen.
    Wainwright legte seine Zigarre weg und nahm ihm das Buch ehrfürchtig aus der Hand, so behutsam, als hielte er ein Baby. Seine Augen waren weit geöffnet, und er hatte ein leises Lächeln auf den Lippen. Es war ein Lächeln des Triumphs, wie Nightingale begriff.
    » Super«, sagte Wainwright. » Wissen Sie, was das ist, Jack?«
    » Der Formicarius«, antwortete Nightingale, » aber das sagt mir nicht viel.«
    » Das hier ist eine Erstausgabe, die 1475 gedruckt wurde«, erklärte Wainwright und strich über den Buchdeckel. » Verfasst ist sie von Johannes Nider. Er hat für das Werk zwei Jahre gebraucht, und erschienen ist es acht Jahre später. Es ist das zweite überhaupt jemals zum Thema Hexerei veröffentlichte Buch. Vor dem Formicarius dachte jedermann, nur Männer dienten dem Teufel.«
    » Und deswegen ist es so wertvoll?«
    Wainwright schüttelte den Kopf. » Nein, der Inhalt des Buches ist gar nicht so wichtig. Ich besitze eine Zweit- und eine Drittausgabe, den Text kenne ich also bereits. Das Buch selbst wollte ich haben. Genau dieses Buch hier.« Er fuhr mit den Fingerspitzen den Buchrücken entlang. » Ihr Vater wusste ebenfalls Bescheid. Darum war er so fest entschlossen, es sich zu beschaffen.« Er grinste. » Es war eigentlich mir zugesagt, wissen Sie? Der Buchhändler in Hamburg hatte schon versprochen, es mir zu verkaufen, aber irgendwie ist Ihr Vater an ihn herangetreten, bevor ich das Geld überweisen konnte. Er war ein sehr überzeugender Mann, Ihr Vater.«
    » Das ist mir schon zu Ohren gekommen«, meinte Nightingale.
    » Er hat dafür anderthalb Millionen Euro bezahlt, wissen Sie das?«
    »