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Holst, Evelyn

Holst, Evelyn

Titel: Holst, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Liebesunfall
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genauer“, forderte sie und zwang sich, dem Chirurgen fest ins Auge zu sehen, eine Kraft vorzutäuschen, von der sie weit entfernt war. „Ich ertrage die Wahrheit. Bitte.“
    „Setzen wir uns“, Dr. Melderis wies auf die Sitzgruppe und Marion spürte, wie ihre Knie schlotterten, als sie sich neben ihn setzte. „Er hat die Operation gut überstanden“, und jetzt die schlechte Nachricht, dachte sie, immer nervöser werdend. „Aber es ist durch den Aufprall, vor allem des Baumzweiges, zu einer sogenannten Einblutung ins Rückenmark gekommen, die zu einer Rückenmarksverletzung geführt und die Wirbelsäule geschädigt hat.“ Marion bemühte sich mit aller Kraft, den Erklärungen des Arztes zu folgen, aber die Worte rauschten an ihrem Hirn vorbei wie Nebelschwaden. „Und wann stoppen Sie diese Blutung?“, fragte sie endlich. „Wann kann er entlassen werden?“
    Sie horchte ihren Worten nach und eine winzige Erleichterung schlich sich in ihre Hoffnungslosigkeit. Einblutung, das klang ja gar nicht so schlimm, das war nichts Endgültiges. „Wir müssen abwarten“, meinte der Arzt. „Sein Zustand muss sich erst einmal wieder stabilisieren. Deshalb haben wir ihn vorläufig in ein künstliches Koma gelegt.“ Koma? „Was heißt das?“, sie schrie es heraus, ihre Anspannung löste sich, sie brauchte ein Ventil. „Wird er sterben? Sagen Sie es mir, Dr. Melderis, wird mein Mann sterben?“

10. Kapitel
    „Sind Sie mit dem Patienten verwandt?“, fragte die Rezeptionistin und musterte Leonie, die mit einem pochenden Gipsbein vor dem Tresen stand und sich tapfer bemühte, nicht bei jedem Schritt laut aufzuschreien. „Sonst kann ich Ihnen nämlich keine Auskünfte geben. Tut mir leid.“ „Ich wollte doch nur wissen, ob der Unfall heute Nacht ...“, Leonies Stimme zitterte, ihr war hundeelend. „Tut mir leid“, das Telefon klingelte: „Unfallkrankenhaus Boberg, guten Abend“, sagte die Rezeptionistin und wedelte Leonie mit einer Handbewegung weg. „Sie sehen, ich habe zu tun.“
    Leonie stand im hell erleuchteten Krankenhausflur mit einem frischen Gips am rechten Bein, aber sie verdrängte den Schmerz, er war nicht wichtig. Deshalb lächelte sie: „Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe, ich geh dann mal wieder“, überflüssige Worte, aber die einzigen, die ihr gerade einfielen, um die Rezeptionistin abzulenken, denn sie wollte jetzt keine Aufmerksamkeit erregen, wollte sich ungestört auf die Suche machen, deshalb war es günstig, dass sie eine Nacht im Krankenhaus verbringen musste und erst morgen früh wieder entlassen werden sollte. Trotz der nächtlichen Stunde, es war inzwischen halb drei Uhr morgens, herrschte noch hektischer Betrieb, Sanitäter schoben wimmernde Menschen durch die Flure, die Schwestern rannten mit IV-Ständern, an denen mit Flüssigkeit gefüllte Beutel hingen, neben den Krankenliegen her, Ärzte eilten herbei.
    Keiner hatte Zeit auf die junge Frau mit dem Beingips zu achten, die vorsichtig in die Zimmer schaute und nach den Verletzten vom Unfall auf der Isestraße fragte. Überall wurde sie abgewimmelt, zur Seite geschoben, sie störte. Und dann ging sie an einer hochgewachsenen, sehr eleganten Frau vorbei, die ihre Hand im Arm eines jungen Arztes verkrallt hatte, der beruhigend auf sie einredete. Leonie wollte sich gerade an den beiden vorbei drücken, als sie den Mantel sah, der über dem Stuhl hing. Er war rot mit schwarzem Kragen. Es war der Mantel der Frau von der Unfallstelle. Zögernd, aber wie von einer fremden Kraft gezogen, ging sie näher heran, stellte sich mit dem Rücken zu den beiden und betrachtete ein Foto, das an der Wand hing. Es war eine sommerliche Landschaft mit bunter Wiese und Schäfchenwolken und offensichtlich als fröhliches Kontrastprogramm zur traurigen Wirklichkeit gedacht. Leonie starrte auf die Mohnblumen und spitzte gleichzeitig die Ohren, ihr gegipstes Bein pochte höllisch, unwichtig. „Ihr Mann wird nicht sterben, Frau von Lehsten“, eine tiefe, männliche Stimme, professionelle Vertröstung. „Das Koma ist lediglich eine medizinische Vorsichtsmaßnahme, wir haben Ihren Mann sozusagen in einen Dornröschenschlaf versetzt.“ Leonie drehte sich um und sah ihn lächeln, offensichtlich gefiel ihm dieser Vergleich. Die Frau lächelte nicht zurück. „Wie lange soll er ... in diesem Dornröschenschlaf verbringen?“ Die Spur von trauriger Ironie, die in ihrer Frage lag, ging völlig an dem jungen Arzt vorbei. Aber Leonie hielt den Atem an.

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