Homicide
Morddezernat.
Landsman war siebenunddreißig, und der Polizeidienst hatte in seiner Familie Tradition: Sein Vater war im Rang eines Lieutenant als stellvertretender Leiter des Northwestern District in den Ruhestand gegangen, der erste jüdische Officer überhaupt, dem die Leitung einesDistrict in der von Iren dominierten Polizei übertragen worden war. Jays älterer Bruder Jerry hatte das Morddezernat erst ein Jahr zuvor nach fünfundzwanzig Dienstjahren als Lieutenant verlassen. Sein Vater war der einzige Grund, warum Jay Landsman zur Polizei gegangen war, und die Familientradition ermöglichte es ihm, von der Polizeiakademie weg mit dem Wissen eines alten Hasen über die inneren Vorgänge im Dezernat zu beginnen. Sein Name half ihm anfangs, doch rasch bewies sich Landsman ganz unabhängig davon als kluger, entscheidungsfreudiger Cop. Bald hatte er drei Bronzesterne, ein Verdienstband und drei oder vier Belobigungsschreiben in der Tasche. Landsman war noch keine vier Jahre bei der Southwestern Patrol, als er ins Präsidium zur CID versetzt wurde, und er war auch erst wenige Monate im Morddezernat, als er 1979 zum Sergeant aufstieg. In dieser kurzen Zeit hatte er alle Fälle gelöst, die ihm übertragen worden waren. Anschließend schickte man ihn als Sector Supervisor auf eine elfmonatige Rundreise durch den Central District, bevor er als Detective Sergeant wieder in den sechsten Stock kam. Als die Ermittlungen im Mordfall Latonya Wallace begannen, war Landsman bereits seit fast sieben Jahren Leiter einer Mordkommission.
Mit ihm hatte D’Addario einen Sergeant, von dem man erwarten konnte, dass er wie ein Detective handelte, seinen Instinkten folgte und eine Ermittlung unermüdlich über Tage und Wochen vorantrieb. Landsman gelang es, trotz seines stämmigen Körperbaus und seiner 90 Kilo einigermaßen agil zu bleiben, und nach sechzehn Jahren Polizeiarbeit zeigten sein zerzaustes schwarzes Haar und sein Schnurrbart gerade einmal die ersten grauen Strähnen. Während manch anderer Sergeant des Morddezernat aussah wie ein Wurstverkäufer, der sich selbst gerne ein Scheibchen reinschiebt, wirkte der 1,85 Meter große Landsman immer noch wie ein Streifenpolizist, und zwar einer von der knallharten Sorte, der sich nicht scheut, nachts auf dem Poplar Grove den Schlagstock zu schwingen und das Schicksal herauszufordern. Eigentlich leistete er die beste Arbeit nicht als Leiter, sondern als sechster Detective seiner Truppe. Er klemmte sich hinter jeden Red Ball, jede Schießerei mit der Polizei und andere schwierige Fälle, in denen er sich die Arbeit am Tatort, die Lauferei und die Verhöre mit dem Primary Detective teilte.
Landsman war ein Instinktmensch: Schon als Detective und später als Sergeant hatte er sich bei der Lösung seiner Fälle meist auf sein Gefühl verlassen. Oft erschien Landsmans Beitrag zur Aufklärung im Nachhinein kaum mehr als eine reine Affekthandlung – wenn er einen Tatverdächtigen im Verhör zusammenschrie, einem anscheinend kooperationswilligen Zeugen kühne Anschuldigungen an den Kopf warf, ohne erkennbaren Anlass die Durchsuchung des Schlafzimmers eines Zeugen anordnete. So unüberlegt und eigenmächtig das gelegentlich wirkte, Landsman hatte mit dieser Masche oft Erfolg. Und mit zwei neuen Leichen alle drei Tage war das Morddezernat von Baltimore nicht unbedingt ein Ort, an dem man nur mit Fleiß und Pingeligkeit vorankam. Landsmans hemdsärmelige Methoden hatten ihre Befürworter unter den Detectives, trotzdem räumten selbst seine eigenen Leute gelegentlich ein, dass sie nicht gerade von der feinen Art waren. Die meisten in D’Addarios Schicht konnten sich an Nächte erinnern, in denen sich Landsman vor drei Tatverdächtigen, die er alle des fraglichen Mordes bezichtigte, die Kehle aus dem Hals geschrien hatte, um sich eine Stunde später bei zweien zu entschuldigen und den dritten in Handschellen abführen zu lassen.
Das Geheimnis des Erfolgs von Landsmans Schockmethoden lag in ihrer Schnelligkeit. Landsman fackelte nicht lange und ließ seinen Gefühlen freien Lauf, denn er glaubte fest an die Regel Nummer Drei im Handbuch des Morddezernats, die besagt, dass die ersten zehn bis zwölf Stunden nach einem Mord über den Erfolg einer Ermittlung entscheiden. In dieser Zeitspanne werden blutige Kleidungsstücke beiseitegeschafft oder verbrannt, gestohlene Autos oder Kennzeichen entsorgt, Schusswaffen eingeschmolzen oder im Hafen versenkt. Komplizen stimmen ihre Geschichten aufeinander
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