Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
»Niemand kann mich zwingen, die Verlobung mit dir zu lösen, Justin. Ich erwarte nicht einmal, dass die Frage auftaucht. Trotzdem ist die Nachfolge nun um einen Kandidaten geschrumpft. Ursprünglich hatten wir ja geplant zu heiraten, sobald ich einundzwanzig bin, nicht wahr?«
»Das stimmt«, antwortete er in normalem Ton.
»Ich rechne nun damit, dass man uns drängt, früher zu heiraten.«
»Das würde mich nicht stören.«
»Mich auch nicht, andere schon. Einige werden meinen, dass eine angemessene Trauerzeit eingehalten werden sollte. Andere werden sich sorgen, dass die Hochzeit, ein Ehemann und der Druck, einen Erben zu bekommen, mich von meinen Pflichten als Königin ablenken könnten.«
»Also wird man wollen, dass du doch abwartest.«
»Stimmt. Schließlich gibt es noch die Nebenlinien des Hauses. Wenn mir und Michael etwas zustößt, bevor wir Nachkommen haben, können Tante Caitrin und ihre Kinder weitermachen …«
Ihre Stimme verebbte. Klein und einsam, barg sie den Kopf an seiner Schulter, und Tränen strömten ihr über das Gesicht.
»Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, Justin!«
»Dann lass es«, sagte er, »vorerst jedenfalls. Denk einfach an gar nichts.«
Als er sie in die Arme schloss, war er sich nicht sicher, ob das Schnurren nur von dem Baumkater stammte.
Ein zögerndes Türklopfen unterbrach ihr trautes Beisammensein. Elizabeth erhob sich von Justins Schoß, ordnete ihr Haar und sagte ruhig: »Ja, bitte?«
Die Tür öffnete sich. Ein uniformierter Angehöriger des Palastwachdienstes kam herein und salutierte.
»Euer Majestät, Kronprinz Michael lässt fragen, ob Sie einen Augenblick Zeit für ihn hätten.«
Justin zog die Brauen hoch. Schon hatte sich einiges geändert! Gestern … ja, noch am gleichen Morgen hätte der Gardist nur gelächelt und nach kurzer Warnung Michael hereinplatzen lassen. Heute … jetzt … bis ein neues Protokoll festgelegt war, musste Elizabeth mit aller Ehrerbietung und Scheu behandelt werden, die ihrer erlauchten Stellung zukam.
Ohne zu erkennen, dass sie eine Änderung der Prozedur nur selbst anordnen konnte, nickte die junge Königin. »Vielen Dank, Taki. Bitten Sie ihn herein.«
Kronprinz Michael, Thronfolger des Hauses Winton, wurde weithin als gut aussehender Junge betrachtet. Obwohl sich bei ihm ein Wachstumsschub ankündigte, der ihm ständig neue Zentimeter Körpergröße zu bescheren schien, gelang es ihm offenbar, dem schlaksigen Stadium des Heranwachsens zu entgehen. Auch mit dreizehn erinnerte er noch an seinen athletischen Vater.
In diesem Moment hätte ihn jedoch selbst seine eigene Mutter nicht als hübsch bezeichnet. Seine Augen waren rot, auf seinen braunen Wangen glänzten Tränenstreifen. Er sah seine Schwester an.
»Muss ich mich jetzt verbeugen, oder was?«
»Musstest du dich vor Dad verbeugen?«, entgegnete sie gelassen.
»Nur bei Hofzeremonien.«
»Na, was denkst du denn dann wohl?«, fragte Elizabeth begütigend. »Sei doch nicht so schwierig, Mikey.«
Als der Prinz den Kosenamen hörte, zuckte er zusammen, denn er glaubte, zu alt für Kosenamen zu sein. Da seine Cousine den Spitznamen ›Mike‹ bereits für sich beanspruchte, bestand er nun darauf, ›Michael‹ genannt zu werden.
Elizabeth kannte ihren Bruder sehr gut und grinste. »Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, wie ich dich nennen soll, Michael.« Justin stand auf.
»Ich glaube, ihr beiden solltet unter euch sein.« Er küsste Elizabeth auf die Wange und schlug Michael kameradschaftlich auf die Schulter. »Wenn ihr mich braucht, findet ihr mich in meinem Zimmer. Sonst sehen wir uns zum Abendessen.«
Der zukünftige Prinzgemahl verließ den Raum ohne weiteres Verweilen. Michael blickte ihm nach.
»Er ist nett«, sagte er fast widerwillig. »Willst du ihn noch immer heiraten?«
Elizabeth sah den Bruder erstaunt an. »Selbstverständlich. Niemand könnte mich davon abhalten. Wieso fragst du?«
Michael ging zum Tisch, tätschelte Ariel und warf sich rittlings auf den Stuhl, den Justin gerade freigemacht hatte. Wie er die Arme um die Lehne schlang und das Kinn auf die Kopfstütze legte, wirkte er sehr mitgenommen. Weil Elizabeth ihn im Laufe der Jahre ähnlich gequälte Posen hatte einnehmen sehen, wusste sie jedoch, dass er sich nicht absichtsvoll selber marterte.
»Ich schätze«, antwortete er endlich, »weil Dad ihn so sehr mochte. Ich dachte, vielleicht hat er ihn dir aufgedrängt.«
»Wie er dich in die Navy drängen wollte?«, fragte
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