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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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»Prosím«, sagte ich. Bitte . »Kde je Kristof Ragan?« Wo ist Kristof Ragan?
    Ich weiß noch, dass sie etwas sagte, aber ihre Antwort ist zu tief in meinem schmerzenden Kopf vergraben, als dass ich mich daran erinnern könnte. Beweg dich, sagt eine innere Stimme. Hol Hilfe. Ich habe das Gefühl, dass Gefahr im Anzug ist, kann aber nicht sagen, aus welcher Richtung.
    Trotzdem bewege ich mich nicht von der Stelle. Die ganze Welt dreht sich, und ich fürchte, erneut auf das harte Pflaster zu schlagen. Ich trage eine Jeans. Meine Lederjacke steht offen, so dass man den Spitzenträger meines BHs unter dem zerrissenen Pullover sehen kann. Die Haut an meinem Dekolleté ist gerötet und schmerzt vor Kälte. Mein rechtes Hosenbein ist zerrissen, und am Knie klafft eine Wunde, von der Blut über mein Schienbein läuft. Es fällt mir schwer, das verletzte Bein zu belasten. Meine Füße sind so kalt, dass ich sie nicht mehr spüre.
    Der Platz liegt verlassen da. Es ist kurz nach Morgengrauen, dämmrig und neblig. Auf der Platzmitte erhebt sich ein riesiger Weihnachtsbaum mit blauen Elektrokerzen, drum herum stehen kleinere, mit funkelnden Lichtern geschmückte Bäume. Der Platz ist von den Holzbuden des Weihnachtsmarktes gesäumt. Die verschnörkelten Straßenlaternen sind mit glimmenden Lichterketten behängt und die Türen und Fenster der umstehenden Häuser mit Kränzen geschmückt. Der im Winter wasserlose Brunnen füllt sich mit Schnee. Der Altstädter Platz ist ein Märchen. Wahrscheinlich ist heute der erste Weihnachtstag, andernfalls würden Touristen umherschlendern, Stadtbewohner zur Arbeit hetzen und Junggesellen nach einer langen Partynacht nach Hause torkeln. Ich habe diesen Platz geliebt, habe mich hier immer willkommen gefühlt, aber heute ist es anders. Ich bin so allein, als hätte ich die Apokalypse verschlafen. Ich habe alles verpasst und bin einsam zurückgeblieben.
    Langsam schleppe ich mich zur Straße. Ich stütze mich an Parkbänken und Häuserwänden ab, um nicht zu stürzen. Hohe Türme, von denen klagende Heilige auf mich herunterschauen, recken sich in den Himmel. Ich entdecke mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Meine Haare sind das reinste Vogelnest, und selbst in diesem Moment zwingt meine Eitelkeit mich dazu, mit den Fingern hindurchzufahren, um es ein wenig zu glätten. Unter meinen Augen klebt verschmierte Wimperntusche. Ich befeuchte meine Finger und versuche, sie abzurubbeln. Meine Jacke ist an der Schulter aufgerissen. Ich habe einen Bluterguss am Kinn. Ich ärgere mich über die Frau in der Scheibe. Sie hat ein aufgeblasenes Ego, hat sich von ihrem Hochmut leiten lassen. Angewidert von mir selbst stoße ich einen tiefen Seufzer aus. Die Atemwolke löst sich rasch in der kalten Luft auf.
    Ich gehe weiter, denn mein eigener Anblick ist mir unerträglich. Weiter vorn sehe ich einen grün-weißen Streifenwagen. Er ist klein und kompakt, eigentlich sieht er gar nicht wie ein Auto aus, eher wie ein riesiges Spielzeug. Ich sehne mich nach dem Blau und Weiß eines eleganten Chevy Caprice mit kreischenden Sirenen und zwei taffen New Yorker Cops. Aber dies hier muss reichen. Ich versuche, schneller zu gehen, und hebe winkend die Hand.
    »Hallo!«, rufe ich, »können Sie mir helfen?«
    Auf der Fahrerseite des Wagens steigt eine Polizistin aus. Sie kommt auf mich zu. Als ich mich ihr nähere, sehe ich ein verächtliches Grinsen auf ihrem Gesicht. In der wuchtigen Uniform wirkt sie klein. Ihre Haare sind unvorteilhaft rot gefärbt, aber ihre Haut ist milchweiß, und ihre Augen leuchten überirdisch blau.
    »Können Sie mich verstehen?«, frage ich.
    »Ein bisschen«, sagt sie. Ahn biss-schen . Sie kneift die Augen zusammen. Schneeflocken sammeln sich in ihrem Haar. Eine verkaterte Amerikanerin, die sich verlaufen hat, sagt ihre Miene. Ja, das hat sie schon hundertmal gesehen. Eine Schande.
    »Ich brauche Hilfe«, sage ich und recke trotzig das Kinn vor. »Ich muss die amerikanische Botschaft finden.« Jetzt mustert sie mich eindringlich, und ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von amüsierter Verachtung hin zu offenem Misstrauen.
    »Wie heißen Sie?«, fragt sie. Ich sehe, wie ihre Hand langsam und wie beiläufig zur Waffe wandert, ein fieses, schwarzes Ding, das viel zu groß ist für ihre schlanken, weißen Finger. Ich zögere; plötzlich und aus unerklärlichem Grund tut es mir leid, sie angesprochen zu haben. Ich will ihr meinen Namen nicht verraten. Ich will mich umdrehen und

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