Hurra, wir leben noch
genau berechneter Platz freigelassen worden. Der Bleisatz paßte präzise. Nun konnten die Zylinderteile für die Rotation gegossen werden. Das geschah gegen 22 Uhr. Zu dieser Zeit schlief Schreiber bereits tief und friedlich, mit über der Brust gefalteten Händen, auf seinem Arbeitstisch. Er war ganz allein – alle anderen Mitarbeiter von OKAY ließen sich den feierlichen Augenblick des Andrucks nicht entgehen, selbst die alte Putzfrau nicht, die bis vor wenigen Tagen noch Serviererin in dem Café in Schwabing gewesen und auf Jakobs Betreiben angestellt worden war.
Die erste Nummer der Illustrierten trug ein Bild des amerikanischen Präsidenten Truman, der auf Bitte von Generalmajor Hobson eine Gruß- und Glückwunschbotschaft an die Leser von OKAY geschickt hatte. (Es war nötig gewesen, daß Schreiber Trumans Zeilen umschrieb – der Text, den natürlich ein Ghostwriter des Präsidenten verfaßt hatte, war nicht eben umwerfend gewesen.) Das Blatt enthielt Bildberichte über Mexiko, Hollywood, die ›Lebende Wüste‹, eine Modenschau in Rom mit vielen Mannequins und Modellen (und eingelegte Schnittbogen zum Selbstschneidern!), die erste Folge des Romans KLEINER MANN, WAS NUN ? von Hans Fallada, DIE TEUFLISCHEN NONNEN , eine große internationale Klatschkolumne, Witze und Zeichnungen von deutschen Karikaturisten, aber auch aus dem PUNCH , dem NEW YORKER und dem ESQUIRE , die Niederschrift eines Telefoninterviews mit George Catlett Marshall sowie einen von einem ersten Fachmann verfaßten (und von Schreiber natürlich auf Verständlichkeit umgeschriebenen) fundierten Kommentar zum ›Marshall-Plan‹, der Europa wieder auf die Beine helfen sollte, den ersten Teil einer Serie über den ›Ameisenstaat‹ und seine verblüffenden Gesetze (nebst Parallelen zu Adolfs ›Totalem Staat‹, Text, versteht sich, von Klaus Mario Schreiber), zwei Kurzgeschichten, die eine heiter, die andere sentimental, beide ›aus unseren Tagen‹, alles geschrieben von Schreiber unter mehreren Pseudonymen. Und, mit seinem richtigen Namen gezeichnet, die große Gauner- und Abenteuergeschichte über den Mann, der die tollsten Dinger gedreht und die Ideen zu ihnen immer dann gehabt hatte, wenn er Kuchen aß.
Von Rosenheim bis Flensburg standen am Tage der Auslieferung die Menschen in langen Schlangen vor den Kiosken, um die erste Nummer von OKAY zu kaufen. Die Auflage von achtzigtausend erwies sich als zu klein. Schleunigst mußte eine zweite Auflage, ebenfalls achtzigtausend, nachgedruckt werden. Die Leute kauften auch die restlos.
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Mit OKAY ging es aufwärts. Im Juni 1948 hatte die Illustrierte eine Auflage von fünfhunderttausend Exemplaren erreicht.
Die Fertighausfabriken in und bei Murnau liefen auf Hochtouren. Hunderte von Häusern für Flüchtlinge, Ausgebombte und Vertriebene waren bereits gebaut worden – mit tatkräftiger Unterstützung des Gouverneurs van Wagoner. US -Laster transportierten Einzelteile und Montagetrupps.
Jakobs drei Eier-Farmen wurden nun Tag und Nacht mit Sinatra-Musik berieselt; denn wieder waren aus Küken Hennen geworden, und die Hennen legten wie verrückt. Jakob lieferte seine Quote an die Amerikaner, die Hälfte des Restes an die Lebensmittelämter und ließ sich in Altersheimen, Kindergärten und Krankenhäusern sehen, als freudebringender Eier-Weihnachtsmann mit vollen Körben. Die Zeitungen brachten tränentreibende Geschichten und Bilder von diesem wahrhaft guten Menschen. Ein herzzerreißender Artikel erschien in OKAY . Den wahrhaft erschütternden Bericht zu den rührenden Bildern, die Jakob mit Waisenkindern, Lungenkranken oder vor Seligkeit weinenden alten Menschen zeigten, hatte natürlich Klaus Mario Schreiber geschrieben.
Die zweite Hälfte des Ertrags an Eiern kam nach einem wohlausgebauten, ja perfekt funktionierenden System anstandslos auf die Schwarzmärkte der Großstädte. Wieselflink sausten uralte Autos, mit Holzvergasern ausgestattet, durch die Lande und transportierten das zerbrechliche Gut. Wahrlich, es gab genug zu tun. Auf Jakob Formanns drei Höfen in der Bi-Zone legten sechsundsechzigtausend Hennen …
Viele Könige des Schwarzen Marktes wurden ärgerlicher und ärgerlicher. Niemals hielt die Polizei einen einzigen Eiertransport an! Niemals ging ein einziges Formann-Ei bei der Razzia verloren! Die Herren Schwarzhändler konnten sich einfach nicht erklären, wie die Verteiler – offenbar hellseherisch begabt – exakt wußten, wann eine Razzia stattfand, also
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