Ich bin die, die niemand sieht
Verhüllt durch Gewitterwolken antwortete ich dir; und in Meriba, wo ich dir später Wasser gab, stellte ich dich auf die Probe.‹«
Er schlägt die große Kirchenbibel auf.
»Frauen und Familien, haben wir nicht um Erlösung gebetet? Männer von Roswell Station, waren dort keine Gewitterwolken? War nicht der Fluss unser eigenes Meriba? Wurden wir dort nicht geprüft, um zu sehen, ob unser Glauben dem standhält?
Der Herr hat dort für uns gekämpft. Und kein Sünder, den der Herr als Werkzeug gebrauchte und dann vor das Jüngste Gericht schickte. Täuscht euch nicht. Wehe jenen, die Gutes böse und Böses gut nennen. Und wehe jenen, die Frevel in ihren Familien dulden, denn Gott der Herr übertrug die Sünden der Väter auf die Kinder und deren Kindeskinder, bis zur dritten und vierten Generation.«
Eunice rutscht auf der Bank hin und her und dreht den Kopf von dir weg. Es entgeht dir nicht.
Reverend Frye fährt noch eine halbe Stunde in diesem Tenor fort, liest ein Gebet vor und setzt sich. Rupert Gillis steht auf und singt halbherzig ein weiteres Lied. Die meisten Menschen starren auf deinen Rücken statt auf den Arm des Lehrers, der den Takt anzeigt.
Nach dem Lied stehen die Gläubigen auf. Du bleibst reglos sitzen. Die Kongregation hat sich im hinteren Teil der Kapelle gesammelt. Man plaudert und will nicht in den nassen Schnee hinaus.
Reverend Frye geht auf dich zu. Als du ihn bemerkst, stehst du auf und gehst mit wehendem Sonntagsmantel Richtung Ausgang. Dein Blick fällt auf Eunice, die dir den Rücken zuwendet, und in deinem Gesicht spiegelt sich ein Anflug von Sorge. Noch eine Dorfschönheit, die du verloren hast. Dann siehst du mich und presst die Lippen zusammen. Vielleicht weißt du, dass nur ich heute nachempfinden kann, wie es dir geht. Du bahnst dir einen Weg durch die schwatzenden Dorfbewohner und gehst. Die anderen verlassen nun auch die Kirche, bleiben aber auf der Veranda stehen.
»Lucas«, ruft Dorfvorsteher Brown dir nach. »Was hast du?«
Du bist wütend. Selbst hier in der Kirche kann ich deine Antwort noch hören.
»Haben wir unsere Leben riskiert, um eine gerechte Gesellschaft zu verteidigen, in der Schuld bewiesen werden muss und nicht bloß unterstellt werden kann? Oder sind wir nicht besser als die Könige, die unsere Väter unterdrückten?«
Reverend Frye steht an der Türschwelle und stützt sich auf seinen Gehstock. Nur er und ich sind noch in der Kirche. Als er mich bemerkt, geht er zurück zum Pult, um seine Sachen zu holen.
XV
Auf dem Heimweg genieße ich die warme Brise und den Sonnenschein. Der Schnee ist schon schwer und nass, aber es wird noch Tage dauern, bis er ganz geschmolzen ist. Möglicherweise wird es heute Nacht kühler und morgen früh ist alles vereist.
Trotz allem, was geschehen ist, genieße ich es wie ein Kind, durch den Matsch zu stapfen.
Maria war heute nicht in der Kirche. Aber ich bin Leon begegnet, der mir sagte, sie fühle sich heute nicht wohl. Maria tut mir leid, aber ich freue mich, dass Leon mich als die Freundin seiner Frau anerkennt. Ich frage mich, ob das Schneeschaufeln sie so erschöpft hat. Sie ist harte Arbeit nicht gewöhnt.
Als ich an deinem Haus vorbeikomme, begrüßt Jip mich freudig. Der Arme kann nichts mehr riechen, aber Gewohnheiten überdauern die Sinne. Ich tätschele ihn.
»Thuuth mir leidh, Junnge.« Mit einem tauben Hund als Zuhörer habe ich keine Hemmungen. »Ich habh nichts.« Die n s gelingen mir immer besser! Ich kraule ihn zwischen den Ohren und er kneift genießerisch die Augen zusammen. »Guter Junge, guter Junge.« Es klingt eher wie »Guu-er«.
Die Sonne steht hoch am Himmel, mir knurrt der Magen. Ich tätschele Jip ein letztes Mal und richte mich auf. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie du vom Fenster zurücktrittst – und um dein gequältes Gesicht zu erkennen.
Armer Lucas. Niemand will miterleben, wie ein Nachbar öffentlich erniedrigt wird. Wenn ich könnte, würde ich dir Darrels Buch über das französische Mädchen vorlesen. Möchtegernhelden können etwas daraus lernen. Die Leute, die du gerettet hast, feiern dich nicht dafür. Stattdessen sammeln sie Holz und jubeln, wenn du verbrennst.
XVI
Noch ehe ich an der Tür bin, höre ich sie streiten. Ich bleibe einen Moment stehen.
»Und ich werde gehen!«, schreit Darrel. »Warum sollte ich es denn nicht tun?«
»Du wirst stürzen und dir den Hals brechen.« Mutter lärmt mit Töpfen und Gerätschaften.
»Dann hättest du eine Sorge
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