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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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sei an Katinkas Flatterhaftigkeit schuld, und da der Schauspieler fast ebensoviele graue Haare hatte wie er, und das schon mit 35 Jahren, sah er in ihm den Nebenbuhler nicht. Außerdem ahnte er, was seinen Helmut mit dem Schauspieler verband, und sah in dem feingliedrigen, von Schlaflosigkeit und tausend eingebildeten Beschwerden geplagten Künstler keinen brutalen Mann, einen resoluten, rücksichtslosen Frauenräuber am wenigsten.
    Er kam also bald in voller Seelenruhe wieder zu mir in mein unter dem Dach gelegenes großes und helles Zimmer, setzte sich ans Mikroskop und arbeitete, rauchend und Kognak trinkend, mit mir. Da Katinka keine Zigaretten mehr für mich bestellte, gab er mir endlich welche. Am Schnaps lag mir nichts.
    Ich war noch im Beginn der Gehirnanatomie. Ich hatte noch nicht mehr als 20 bis 30 Platten hinter mir, da die Präparate genau durchgearbeitet werden mußten und kein einziges etwa deswegen übersprungen werden durfte, weil es nur geringfügige, fast unwahrnehmbare Unterschiede im Vergleich zu dem vorhergehenden und nachfolgenden zeigte.
    Das, was ich sah und erfuhr, entzückte mich. Es entzückte mich ganz anders, aber ebenso tief, wenn ich sagen darf, wie das atembeklemmende Entzücken bei dem Traum von der nackten Katinka, es war Tag im Vergleich zur Nacht. Es tat mir wohl. Das Schwimmen und Rudern lockte mich jetzt viel weniger als am Anfang, ich konnte mich von der Arbeit nicht trennen. Ich verglich die Anordnung der Zellen, die in einem rätselhaften, rhythmischen, planmäßigen Zusammenhang standen (obwohl niemand das Rätsel lösen konnte, niemand den Rhythmus erfaßte und noch keiner den Plan auch nur auf eines Millimeters Tiefe und auf eines Quadratmillimeters Umfang aufgedeckt hatte), einmal im Gespräch mit Kaiser mit dem der Milchstraße, die ich nachts von meinem Bette aus sehen konnte, wenn ich, gestört von der Musik und dem Lachen unten auf der Seeterrasse, nicht einschlafen konnte. Gegen solche Vergleiche war mein Lehrer sehr. Sich strikt an das halten, was ist. Alles ignorieren, was nicht ist, war sein Wahlspruch. Nervenzellen waren etwas und eine Milchstraße etwas anderes. Er war Spezialist in diesem und Ignorant in jenem.
    Mitte Oktober kehrten wir alle in die Stadt zurück. Der Doktor Kaiser nahm mich in seinem Auto mit. Schon am frühen Morgen waren seine Frau, seine Kinder und der Schauspieler (den kleinen Hund nicht zu vergessen) vorausgefahren. Ich hatte im stillen gehofft, Kaiser würde auf der schönen ruhigen Fahrt über meine Lage sprechen, denn offen gesagt, es graute mir vor der Rückkehr in meine kahle, im Winter eiskalte Bodenkammer und noch viel mehr in den ›Abwasch‹ des ›Prinzregenten von Bayern‹. Auch meiner Mutter hatte ich beim Abschied Andeutungen gemacht. Sie mußte doch wissen, wie ich lebte und daß ich nicht ohne Entbehrungen lebte. Sie hatte mich aussprechen lassen, hatte lange gezögert und dann gesagt, wenn ich ›meine Großmut‹ wieder zurücknehmen wolle, werde sie es ihm sagen. Daraufhin blieb mir nichts anderes, als ihre feuchte, schon etwas zitterige Hand zu küssen. Meine Mutter war noch nicht alt, aber schon ganz grau und trug sich wie eine bejahrte Bäuerin.
    Auch Kaiser war nicht sehr entgegenkommend. Aber ich ließ nicht locker. Wenn er sich auch nicht darauf einlassen wollte, mich mit einem festen Monatslohn statt der einzeln bezahlten Diktatstunden abzufinden, so brachte ich ihn, wenn auch diesmal schwerer als sonst, dazu, mir etwas Geld ›auf die Hand‹ zu geben. Ich mußte unbedingt neue 100 Mark haben. Ich hatte mir 90 Mark im Laufe der drei Monate verdient. Meine Gesamtschuld betrug also nun wieder 300 Mark. Aber ich konnte in meinem alten, aus den Fugen gehenden Anzug mich nicht mehr zeigen. Ich mußte Schuhe und Wäsche haben. Wir trennten uns kühl in der Stadt. Vielleicht hatte er erwartet, ich würde überschwenglich danken.
    Das Bodenkämmerchen war anläßlich meiner Rückkunft trefflich aufgeräumt, alles blitzte, blinkte, und die Portiersfrau hatte mir einen Strauß Astern hingestellt. Ich dankte ihr sehr herzlich. Denn sie war mir zu nichts verpflichtet. Im Hotel wurde ich ebenso freundlich aufgenommen. Ich hatte im stillen gefürchtet, man würde einen Ersatz für mich gefunden haben, aber die Verwalterin hatte den Platz für mich frei gehalten.
    Ich war jetzt ein sehr verläßlicher Wäscher. Ich besorgte diese Arbeit nicht anders als ein Fabrikarbeiter an der Maschine, es mußte etwas Besonderes kommen,

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