Ich & Emma
gar nicht mehr. Einmal habe ich Mamas Parfüm genommen und zweimal direkt in den Stoff gesprüht, jetzt riecht es dort nach Mama an einem Sonntag.
Wir wohnen in einem alten weißen Haus mit abgeblätterten gelben Fensterläden. Es ist drei Stockwerke hoch, wenn man den Dachboden mitzählt, auf dem ich und Emma schlafen. Wir hatten früher unser Zimmer gegenüber von Mama und Daddy, aber nachdem er gestorben war und Richard einzog, mussten wir ein Stockwerk höher gehen. Und das ist das Schlimmste. Dass Richard uns gezwungen hat, unser Zimmer zu verlassen. Ich kann darüber jetzt nicht nachdenken. Wenn ich über etwas nicht nachdenken will, tue ich so, als ob es einen kleinen Mann in meinem Kopf gäbe, der den Teil meines Gehirns, das über die schlechten Dinge nachdenkt, mit aller Kraft nach hinten schiebt, hinter alles andere, worüber ich nachdenken könnte.
Mama sagt, es sei unordentlich, so wie wir allen möglichen Kram vor dem Haus stehen haben, und deshalb hat sie einfach Blumen gepflanzt, damit es so aussieht, als ob wir die Sachen absichtlich dort hingestellt hätten. Und zwar: Drei Reifen – über einem wächst schon Gras aus dem Schmutzhügel in der Mitte –, eine Katzenstatue, die so grau ist wie ein Gehweg, Richards altes Auto, das, wie er behauptet, eines Tages wieder zum Leben erweckt würde, aber ich denke, dann wäre es ziemlich verwirrt, weil es nämlich keine Reifen mehr hat, Mamas alter Waschkübel mit Blumen darin, eine Hängematte, in der Emma und ich gern geschaukelt haben, als wir noch richtig jung waren, aber jetzt ist eine Seite ausgefranst, weil wir sie im Winter nie ins Haus genommen haben, ein Heubündel, das verfault riecht, ein Eisenhahn, der in die Richtung des Sturms zeigt, wenn einer kommt, und Richards alte Arbeitsstiefel. In die hat Mama auch Blumen gepflanzt. Ich habe noch nie zuvor Blumen in Stiefeln gesehen, aber jetzt wachsen dort Gänseblümchen. Oh, beinahe hätte ich es vergessen, Mamas Wäscheleine ist auch da draußen.
Es gibt keinen Weg zu der Eingangstür. Ich wünschte, es gäbe einen. Schneeweißchen und Rosenrot haben einen Weg, der durch einen mit Rosen bewachsenen Torbogen führt. Bei uns gibt es nur zertrampelten Rasen. Aber wenigstens haben wir eine Veranda, und die gefällt mir am besten. Es macht zwar einen Heidenlärm, wenn man auf ihr läuft, aber man kann von dort aus alles sehen.
“Was tust du da?” fragt Emma. Ich weiß nicht, woher sie aufgetaucht ist. Ich habe sie nicht einmal gehört.
Ich stehe hier auf der Veranda, überblicke unseren Hof und alles, was wir besitzen. Manchmal tue ich so, als wäre ich eine Prinzessin und all die Dinge wären Menschen, meine Untertanen, die zu mir auf dem Balkon meines Schlosses hinaufwinken.
“Was meinst du damit, was ich da tue?”
“Wem winkst du zu?”
“Ich habe nicht gewunken.”
“Hast du wohl. Du tust wieder so, als wärst du eine Prinzessin, stimmt’s?” Emma sitzt in Mamas altem Schaukelstuhl, bei dem ein Großteil der Sitzfläche fehlt. Sie lächelt, weil sie weiß, dass sie mich ertappt hat.
“Tu ich nicht.”
“Tust du doch. Was für eine Farbe hat dein Kleid?” An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie sich nicht länger über mich lustig macht, dass sie einfach will, dass ich ihr von meinem Traum erzähle, damit sie ihn auch träumen kann. Sie ist jetzt ganz ernst.
“Es ist natürlich rosa”, sage ich, “und es ist über und über mit funkelnden Perlen bestickt, damit es so aussieht, als ob es aus rosaroten Diamanten gemacht wäre. Und ich habe einen großen handgemachten Spitzenkragen. Der kratzt überhaupt nicht. Er ist so weich, dass er mich manchmal kitzelt. Die Ärmel sind aus Samt, aus weißem Samt. Die sind sogar noch weicher als der Kragen. Aber das Tollste sind meine Schuhe. Meine Schuhe sind aus Glas, wie bei Aschenputtel, und die Spitzen sind aus Diamanten, damit sie zu meinem Kleid passen.”
Emma hat die Augen geschlossen, aber sie nickt.
“Und hier sind meine treuen Untertanen.” Ich deute mit dem Arm über das Geländer hinweg auf den Hof. “Sie lieben mich alle, weil ich eine gute Prinzessin bin und nicht so böse wie meine Stiefschwester. Ich gebe ihnen Essen und Geld – und ich spreche mit ihnen, als gehörten sie zu meiner Familie. Meine treuen Untertanen …” Mit den letzten Worten wende ich mich an den ganzen Müll im Hof. Ach so, ja, dort draußen steht auch ein altes Eisenbett. Jetzt ist es verrostet, aber es hat einmal geglänzt. Es steht direkt vor
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