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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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schien ein Albdruck vor mir
auf, in dem sich das Wiegen in den Armen meiner Mutter in das Auf und Ab eines
Schiffes verwandelte. Ich wankte in der Bank, und Sir Stanleys Hand fasste
meinen Arm. Ich schoss in die Höhe, erhitzt, alarmiert, verlegen. Meine Augen
öffneten sich. Der Bischof aber leierte immer weiter mit seiner Stimme, die zu
nichts anderem geschaffen zu sein schien, als eine alte Frau mit Schlaf zu
versuchen.
    Die Leute um mich herum
erhoben sich, und ich tat es ihnen nach. Ich stand mit ihnen auf, als sie
beteten, wartete ab, als sie sangen, kniete mit ihnen nieder und setzte mich
anschließend mit all der Haltung, die ich aufzubringen vermochte, auch wieder
hin. Kein Wunder, dass kein kein Mann und keine Frau afrikanischen Ursprungs in
die Kirche gefunden hatte. Würden sie dieses stundenlange Fegefeuer
durchstehen, wenn man es ihnen erlaubte?
    Konnten all die
anglikanischen Ohren dem stetig dahinmurmelnden Bischof lauschen, der da von
Auferstehung und Ewigkeit sprach? Ich hörte etwas über die Israeliten und das
gelobte Land, aber mein Körper lechzte nach horizontaler Lage. Eines Tages
würde ich in jenes Bett taumeln und mich nie wieder daraus erheben. Aber so
weit war es noch nicht. Meine Augen öffneten sich etwas weiter. Noch nicht, bitte .
    Ich würde Kraft und
Vitalität brauchen, um vor dem Parlamentsausschuss zu reden. An dem Tag würde
ich meine Beine heben und einen Hauch meiner alten Leidenschaft aufleben lassen
müssen. Ach, ich hatte das schöne Alter erreicht, da es leichter war zu
sprechen als zuzuhören. Zu diesem Zeitpunkt der Messe kam mir der Gedanke, dass
der letzte Mensch auf dieser Welt, der dereinst noch Worte über seine Lippen
bringen würde, dieser winzige anglikanische Bischof sein müsse, ohne ein Rollen
der Augen, ohne eine Geste, ohne Kraft in den Beinen und ohne Jesus in die Arme
zu fallen. Ich würde mich in diesem Leben keinesfalls mehr in eine
anglikanische Kirche locken lassen. Wenn Gott gegrüßt werden musste, dann
zusammen mit den Baptisten Birchtowns oder Freetowns. Die tanzten wenigstens,
wenn sie Jesus anriefen, und schrien laut genug, um selbst die Halbtoten wach
zu halten.
    Ich schaffte es, mein
Kinn oben und meine Lider ausreichend offen zu halten, um mich nicht zu
verraten. Es war nicht angenehm, so ruhig in dieser Kirche zu sitzen, doch das
war kein Grund, Sir Stanley Hastings, seine Frau und seine fünf Kinder in
Verlegenheit zu bringen.
    Gegen Ende der Messe
wurde ich ein letztes Mal aus der Benommenheit gerissen, als sich die Gemeinde
erneut zum Singen erhob. Und ich stand in ihr, jetzt wieder ganz wach. Meine
Fersen pochten. Sie fühlten sich an, als wäre alles Fleisch von ihnen gerissen
und als bestünden sie nur noch aus Knochen. Und während ich so rechtschaffen
dastand und sich meine Fersen und jeder andere Teil meines Körpers danach
sehnten, dass es endlich zu Ende ging, hörte ich etwas, das mich mein
Unwohlsein vergessen und die Ohren spitzen ließ. Eine Melodie. Stimmen. Tausend
Stimmen. Die Stimmen aller braven Anglikaner strömten zusammen.
    Die Melodie kam mir
vage vertraut vor. Fern und doch unmöglich nahe. Wo hatte ich sie schon gehört?
    Als sich Britannien erstmals auf Geheiß des
Himmels
    Aus der azur’nen Weite erhob,
    War dies die Satzung dieses Landes.
    Und seine Schutzengel sangen diese Melodie …
    Die Stimmen
sangen weiter, und ich grub tief in meinem Gedächtnis. Hatte ich dieses Lied in
Charles Town gehört? Nein. In New York? Nein, dort auch nicht. Wo also, und
wann?
    Rule, Britannia! Britannia rule the waves:
    Britons never never never will be slaves …
    Engländer?
Briten? Sklaven? Was für ein Unsinn war das? Herrsche,
Britannien! Beherrsche die Wellen … Ich lauschte. Der Text war unmöglich. Aber an ihn erinnerte ich mich
auch nicht. Es war die Musik. Was für ein Lied konnte das sein? Und wie war es
möglich, dass ich seine erhebende Kraft und seinen Optimismus wiedererkannte?
    Die Nationen, nicht so gesegnet wie du,
    Werden Tyrannen zum Opfer fallen,
    Doch du wirst groß und frei erblühen,
    Gefürchtet und beneidet von allen …
    Ich versuchte
die Worte festzuhalten und in meiner Vorstellung zu betrachten. Die Nationen, nicht so gesegnet wie du, werden Tyrannen zum Opfer
fallen . Ich sah nach
rechts. Sir Stanley Hastings sang inbrünstig mit, das Kinn gereckt wie ein
Rotkehlchen im Frühling. Und dann kam er. Der Refrain. Der Teil, der mir am
vertrautesten vorkam. Ein Klang, der die guten anglikanischen

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