Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
und Tagesablauf. Eine Woche lang brodelt es in Myra, bis sie Martin und mich trifft. Ein spiritueller Pilger würde über uns vielleicht munkeln, dass wir das Prinzip nicht ganz verstanden hätten, aber: Unser fröhlicher, unaufgeregter Umgang mit dem Weg und den Mitpilgern sind ihr Grund genug, das Regiment der Myra 2 zu verlassen. Genug davon. Sie wählt denWeg der eigenen Interessen.
Die kleine Frau ist in meinen Augen eine echte Kämpferin, und das sage ich ihr auch. Sie wog noch vor wenigen Jahren 105 Kilo mehr als jetzt und hat mit jedem Pfund weniger wohl an Selbstbewusstsein zugelegt. Sie ist hier auf dem Jakobsweg wirklich auf einem Weg zu ihrer Freiheit. Plötzlich muss die pensionierte Verwaltungsangestellte die nächsten Wochen in einem fremden Land auf einem fremden Kontinent unter lauter Fremden erstmals im Leben selbst organisieren.
Wir heißen die neue Mutter der Kompanie in unseren Reihen willkommen. Mit ihrem Humor, ihrer Lebenserfahrung, ihren Tränen und ihrem Lachen bereichert sie in den kommenden Tagen unseren Camino. In ihrer Ex-Gruppe lässt sie sich nicht mehr blicken und lässt die Anführerin zudem über ihre weiteren Pläne im Unklaren schmoren. „Ein klärendes Gespräch ist nicht so eilig“, stellt sie selbstbewusst und auch ein wenig bockig fest. Sicher hat sie aber auch ein bisschen Angst vor dem schwelenden Konflikt. Sie genießt die Tage mit uns und schmeißt als erstes ihren dicken Zwei-Kilo-Schlafsack weg, der sowieso eher für kanadische Übernachtungstemperaturen geeignet war, als für die Hitze dieser Tage.
Myras Körper und Seele erholen sich Schritt für Schritt, und Martin und ich freuen uns mit ihr. Gelegentlich schwebt sie neben uns her, als könntesie übers Wasser gehen. Wir erklären sie zu unserem Pilgermaskottchen und Martin gibt ihr den Spitznamen „Jack Rabbit“, weil sie kaninchengleich mit ihren kurzen Schritten schneller läuft als wir zwei zusammen.
Ab und an machen wir uns den Spaß, und bleiben unmerklich zurück, wenn wir ihrem Tempo nicht folgen mögen. Dann verschwinden wir, durch unmerkliche Handzeichen abgesprochen, in einem Seitenweg und beobachten prustend, wie sie 100 Meter weiter langsam aus ihren Gedanken erwacht und sich irgendwann nach den fehlenden Wanderstockgeräuschen umdreht. Ihr tadelnder Blick und der konfliktfreie Umgang miteinander machen ihr und uns einfach Spaß. Ich stelle fest: Pilgern ist Leichtigkeit .
Einer mag überwältigt werden, aber zwei mögen widerstehen; und eine dreifältige Schnur reißt nicht leicht entzwei. Prediger 4.12
10. Tag: Von Navarrete nach Najera
Nach der Übernachtung in der schönen Neubauwohnung in Navarrete wandern Myra, Martin und ich morgens gemeinsam los. Heute gibt es mal eine kurze Etappe: 18 Kilometer durch die Rotweinfelder, die zudem auf knallroter Erdewachsen. Wie sollte da auch ein Weißwein rauskommen? Um 6.30 auf den Beinen, haben wir drei bereits um 11 Uhr das Ziel des Tages erreicht.
Zeitweise jeder für sich zwischen den traubenbedeckten, sanften Hügeln unterwegs, treffen wir uns wie selbstverständlich kurz vor Najera wieder und finden eine private, moderne Unterkunft im Jugendherbergsstil - Vierbettzimmer. Darf auch mal wieder sein. Ich bin ausgeschlafen genug für ein Schlafsaalabenteuer, finde ich. Es gibt ja Leute, die sagen, dass man Schlimmes immer kostenlos bekomme. Das stimmt hier nicht. Hier zahlt man sogar dafür.
Am Vorabend bin ich durch den wie üblich mittelalterlichen Ort gestreift. Die Kirche aus hellen Natursteinen strotzt vor Gold und kitschigen Figuren. Eine überzogene, aber natürlich steinalte Pracht. Trotzdem: Es ist schön kühl hier drin und draußen sind heute Nachmittag gut 30 Grad. So sitzt es sich in der schattigen Stille ein paar angenehme Minuten lang mit Blick auf die herumpilgernden Mitbesucher. Zum Abendessen gibt es ein tolles Dreigangmenü mit Spaghetti, mit fischgefüllten Paprika in pechschwarzer Calamares-Tintensoße und Karamellpudding. Dazu ein paar Fläschchen richtig leckeren Weines. Respekt und Dank dem italienisch-stämmigen Chef, der selbst kocht und serviert. Das hätte auch ein Sternekoch nicht besser hingekriegt.
Die Truppe der vergangenen Tage mit Holly,dem französischen Professor Francois sowie einer Holländerin namens Leonie, zwei Deutschen -Mutter und erwachsener Sohn, und dem Schweizer Chris trifft zusammen. In ein paar Tagen in Burgos werden wir auseinanderdriften. Einige werden mehrere Etappen mit dem Bus springen, ich
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