Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Gesänge, Gongs und Tempelglocken erklangen, schließlich wurde der Deckel des Riesenkessels gelüftet, Wasserdampf stieg in die Morgendämmerung auf. Es war das Fest der Wasserweihe gewesen.
Stockhausen hat dieses Erlebnis in seinem Werk Prozession verarbeitet, mit dem er Abschied vom bis dahin geübten rein musikalischen Schaffen nahm. Immer mehr erweiterte sich von da an seine Arbeit ins Theatralische, bis er gegen Ende seines Lebens viele Jahre seinem gigantischen Opernwerk Licht widmete, für das er neben dem Text und der Musik auch die Bühnenbilder und Kostüme entwarf.
Bei verschiedenen Gelegenheiten war uns in Japan etwas aufgefallen, das wir, verglichen mit den Verhältnissen in Europa, die größere »Spannbreite« von Erscheinungen und Verhaltensweisen nannten. Hier konnte alles weiter ins Extrem gehen, viel lauter oder auch viel leiser sein, noch größer oder auch winziger, von längerer oder kürzerer Dauer, viel wilder ausfallen oder auch sanfter, gezähmter als bei uns. So zum Beispiel beim Sumokampf: Man schaut oft zehn oder gar zwanzig Minuten auf die sich umkreisenden, sich einschätzenden Kämpfer im Ring, ohne dass etwas geschieht. Dann ist auf einmal in Sekundenschnelle alles entschieden; einer der beiden an die zweihundert Kilo schweren Männer liegt am Boden, der Zeremonienmeister streut eine letzte Handvoll Reis in den Ring.
Oder im N o ¯ -Theater: Der Hauptdarsteller, Shite genannt, braucht oft etliche Minuten, um sich über einen seitlich des Publikums verlaufenden Gang der Bühne zu nähern. Nun steht er endlich dort vorn und macht – für uns kaum erkenn- und deutbar – eine Geste. Die Zuschauer springen auf, stoßen Schreie aus – Jubelschreie, denn der Shite hat gewagt, eine neue Geste einzuführen, die nun als »Geste des großen Meisters X« in die Geschichte des N o ¯ -Theaters eingeht. Kurz darauf sitzt das Publikum wieder mucksmäuschenstill auf den Bänken und verfolgt aufmerksam das weitere Geschehen.
Beim Gagaku-Theater sitzen die Musiker seitlich auf der Bühne in zwei Reihen hintereinander, vorn die Meister, die tatsächlich spielen, hinter ihnen die Schüler, die nur lauschen. Eine Partitur gibt es nicht, seit Jahrhunderten werden dieselben Stücke, überliefert nur in der Tradition der Spielpraxis, vorgetragen. Irgendwann, oft erst nach Jahren, darf ein Schüler das Spiel übernehmen. Dann gibt der Meister in der ersten Reihe ein Zeichen, alles hält an, er steht auf, überreicht dem hinter ihm Sitzenden sein Instrument, weist ihn vor auf seinen Sitz und nimmt selbst auf der hinteren Bank Platz. Er gibt ein Zeichen zum Weiterspielen und schaut nun dem Schüler über die Schulter. Diese Initiation des Schülers findet ohne vorherige Absprache statt, sie kann jederzeit und an jeder beliebigen Stelle des Stücks geschehen. Der Schüler muss also nun den musikalischen Faden genau da aufgreifen, wo der Meister das Spiel hat unterbrechen lassen. Bei uns würde der Dirigent sagen: »So, zurück bitte zu Seite drei, Takt vier«, aber die nur mündlich überlieferte Tradition ermöglicht kein solches grafisches Lokalisieren, hier kommt es allein auf konzentrierte Aufmerksamkeit und präzises Gedächtnis an.
Auch auf der Rückreise von Japan, die uns über Indien führte, gewannen wir noch interessante musikalische Eindrücke. Stockhausen hatte im Goethe-Institut in Neu-Delhi erstmals sein Werk Kontakte aufgeführt. Die elektronische Musik war für die Zuhörer etwas völlig Neues, wurde aber gleich in hohem Maße anerkannt. Zum Dank spielte man uns dann indische Ragas vor, mantraartige Melodien, die sich immer wiederholten. Die Ragas wurden begleitet von Tänzerinnen mit Schellen an den Beinen. Stockhausen hat später, 1973, die mudras, die Handbewegungen der Tänzerinnen, und die gesamte Gestik in seinem Bühnenwerk Inori verwendet, in dem szenische und akustische Elemente zu einer Einheit verschmelzen.
Nach dem Raga-Konzert fragte er den Sitarspieler, auf welchen Grundton sie sich denn einigten, also wie sie ihre Tonarten aufbauten. Ein Übersetzer half uns, denn Stockhausen wollte es genau wissen. Wir erfuhren, dass die Musiker keine Noten im herkömmlichen Sinn verwenden und dass kein Unterschied zwischen Komponist und Interpret besteht. Vieles ist nur akustische Überlieferung. Der Musiker ließ eine Saite ertönen, und Karlheinz erkannte sogleich das Cis. Sie nannten den Ton Satya. Der Musiker erklärte uns, wie die »Tonarten« entstanden: Das sei eine
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