Idol
was ihn erwartete, ist
er geflohen. Damals ist die Welt für mich zusammengestürzt. Troilo wurde getötet, mein Sohn wurde mir genommen, und ich habe
auf den Tod gewartet. Und beim Warten … Weißt du, Raimondo, es gibt Menschen, die betäuben sich mit Wein. Und womit ich mich
betäube, weißt du jetzt.«
Die ganze Nacht blieb ich bei ihr, und nachdem ich am nächsten Morgen mein Zimmer aufgesucht hatte, fing ich an zu weinen.
Ich konnte nicht mehr verstehen, warum Isabella sterben sollte. Sie war so lebendig.
Am Vormittag suchte ich den Kaplan auf, beichtete und fragte:
|94| »Ihr wißt, weshalb ich hier bin, Vater?«
»Ja, ich weiß«, antwortete er und sah zu Boden.
»Ich möchte, daß sie vorher beichtet. Ich möchte nicht, daß sie im Zustand der Sünde stirbt.«
Der Kaplan war sehr alt und hatte kaum noch Fleisch im Gesicht, seine Knochen schienen nur von einer durchsichtigen dünnen
Haut überspannt. Er wirkte wie ein Skelett, so daß es mich fast überraschte, tief in seinen Augenhöhlen noch Augen zu entdecken,
die allerdings, sah man genauer hin, auch tot waren.
»Ich habe ihr schon lange nicht mehr die Beichte abgenommen«, sagte er mit so schwacher Stimme, daß man fürchten mußte, sie
könne jeden Augenblick versagen. »Wozu auch? Sie bereut nicht. Sie denkt nur daran, weiterzumachen.«
»Dann wird sie also verdammt sein?«
»Ach«, sagte er und hob seine fleischlosen Hände, »wie soll ich das wissen?«
»Mein Vater«, bat ich, »ich flehe Euch an, nehmt ihr die Beichte ab! Nehmt ihr noch ein letztes Mal die Beichte ab!«
»Nein! nein! nein!« wiederholte er mit einer Kraft, die ich von diesem gebrechlichen Greis nicht erwartet hätte. »Es wäre
wiederum nur eine schlechte Beichte mehr! Selbst wenn sie vor mir kniet, die Stirn gesenkt, und die Litanei ihrer Verderbtheiten
aufzählt, merke ich deutlich, daß sie sich noch immer daran ergötzt …«
Er drehte sich um, und ich sah ihm wütend nach, wie er sich entfernte. Wäre er nicht Priester gewesen, hätte ich ihn mit meinem
Degen durchbohrt.
Beim Mittagsmahl, das ich mit Isabella allein in ihrem Zimmer einnahm, sagte ich: »Gib mir deinen Schlüssel, Isabella, damit
ich jederzeit zu dir kommen kann!«
Sie lächelte: »Er steckt an der Tür, nimm ihn dir. Aber du triffst mich vielleicht nicht allein an – Gott sei Dank bin ich
nicht oft allein«, fügte sie mit einer bitteren Falte um den Mund hinzu. Doch sie faßte sich gleich wieder und fragte in einem
leichten Plauderton:
»Wie geht es denn Paolo? Ist seine Wunde verheilt? Hat er immer noch seine kleine Maurin?«
»Ja.«
»Und wie ist sie? Hast du sie gesehen?«
|95| »Einmal, durch Zufall. Er zeigt sie nicht vor. Sie ist wie eine kleine magere Katze, mit großen Augen und großem Mund.«
Isabella begann zu lachen, Gott weiß warum, und fuhr beinahe fröhlich fort:
»Er hat bestimmt auch andere gehabt, ich wette.«
»Sehr viele andere.«
Sie hob ihr Glas an die Lippen, ohne zu trinken.
»Die Männer haben Glück, Raimondo. Sie können mit jeder schlafen und werden nicht ›Dirne‹ gescholten. Wenn sie Ehebruch begehen,
werden sie nicht getötet. Trotzdem möchte ich um nichts auf der Welt mit ihnen tauschen. Komm, Raimondo, schnell! Los, sei
nicht so langsam! Sonst bist du auch für mich
il bruto
.«
Sie griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. Ihre schwarzen Augen versengten mich fast. Ihr Lager war sehr niedrig
und doppelt so breit wie ein gewöhnliches Bett. Es gab keine weiteren Möbel im Raum, nur Teppiche, Wandbehänge und Kissen.
Die Fenstervorhänge waren zugezogen, wegen der Sonne. In mein Zimmer zurückgekehrt, ließ ich meinen Schildknappen Alfredo
rufen. Er ist mein Cousin mütterlicherseits, und wenn jemand den Beinamen
il bruto
verdient, dann er. Er hat Kraft wie ein Stier und ein Herz aus Stein. Man braucht nur seine brutale Visage zu sehen und weiß
Bescheid. Er ist mir auf seine Art zugetan. Und ich kann ihn gut leiden. Lodovico behauptet, er sei mir nur deshalb sympathisch,
weil ich mir im Gespräch mit ihm intelligent vorkäme. Lodovico irrt: ich komme mir nie intelligent vor. Ich lebe in einem
Zustand dumpfer Betäubung und verstehe nicht viel vom Leben. Selbst die Tatsache, daß ich lebe, erscheint mir dunkel. Einmal
hatte ich Paolo gebeten, es mir zu erklären. Doch er hat nur gelacht.
»Alfredo«, sagte ich, »das mit Isabella erledige ich noch heute.«
Er riß seine kleinen
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