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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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gerade noch unterdrücken.
    »Es ist nichts«, sagte Marcello. »Ein kleiner Unfall. Ich habe mich mit dem Fürsten im Fechten geübt.«
    |119| »Laß uns allein, Caterina«, befahl Vittoria.
    »Nein, nein«, entgegnete Marcello lebhaft, »sie soll bleiben. Ich habe jetzt volles Vertrauen zu ihr. Sie verdient es.«
    Dabei wechselten wir einen Blick im Spiegel. Heiße Wellen überliefen mich vom Kopf bis zu den Füßen. Die Madonna weiß, daß
     ich für die Signora immer nur Verehrung und Dankbarkeit empfunden habe. Doch wie soll ich meine Gefühle für sie beschreiben,
     jetzt, da ihr Bruder mich zu seiner Geliebten gemacht hat.
    Ich stand hinter Vittoria und bemühte mich, beim Kämmen nicht auf ihr Haar zu treten, das an ihrem Schemel herabfloß, sich
     auf dem Teppich brach und wie eine lange Schleppe, die ich nun aufwickeln mußte, auf dem Boden ausbreitete. Hinter mir stand
     Marcello, das Wams um die Schultern gehängt. Seine Nähe erhitzte mir Rücken und Lenden und jagte mir kleine Schauer bis in
     die Zehenspitzen.
    Im Spiegel sah ich, wie Marcello mit der Rechten in der Tasche seines Wamses kramte. Er förderte einen gesiegelten Brief zutage,
     den er auf den Frisiertisch legte, neben eine Schmuckkassette, die Vittoria vor sich hingestellt hatte, um Stück für Stück
     ihre Ringe herauszunehmen und mit einem Schwämmchen zu säubern.
    »Was ist das?« fragte Vittoria mit tonloser Stimme.
    »Ein Brief von einem großen Herrn, der in Euch verliebt ist und Euch demütig bittet, ihn zu lesen«, antwortete Marcello.
    Vittoria erbleichte; der Ring, den sie gerade putzte, entglitt ihr. Es war ein in Gold gefaßter großer Cabochon mit einem
     diamantenen V darauf, ein sehr schönes Schmuckstück, das Vittoria, wie ich bemerkte, nie trug. Nach Giuliettas Meinung, weil
     Signora Tarquinia ihn ihr geschenkt hatte; ich aber meine, weil sie dieses Geschenk einen Tag vor dem Tode ihres Vaters erhalten
     hatte.
    Der Ring mit dem Initial ihres Vornamens drehte sich zweimal, bevor er neben der flachen Schale mit dem Reinigungsschwämmchen
     liegen blieb. Vittoria umklammerte den Rand des Frisiertischs so fest, daß ihre Finger weiß wurden. Marcello hinter mir verharrte
     bewegungslos und schweigend. Im Spiegel sah ich sein Gesicht, darunter meines (denn ich bin einen Kopf kleiner als er), darunter
     das der sitzenden Vittoria. Als Marcello den gesiegelten Brief vor sie hinlegte, hatte ich mit dem Bürsten |120| aufgehört. Ein oder zwei Sekunden später machte ich weiter, damit es nicht den Anschein hätte, als lauere ich darauf, was
     Vittoria tun würde: den Brief lesen oder nicht. Allerdings bürstete ich jetzt langsamer und so geräuschlos wie möglich, um
     ihren leicht keuchenden Atem hören zu können. Sie hatte ihre Augen auf den Brief gesenkt und sah ihn an wie ein Vogel die
     Schlange. Ihr Gesicht war bleich, aber beherrscht. Soweit ich hören konnte, atmete sie normal. Das einzige Zeichen ihrer Gemütsbewegung
     war wirklich nur die Kraft, mit der sie sich an den Frisiertisch klammerte.
    Ich blickte kurz auf Marcellos Spiegelbild. Wie schön er war! Selbst in dieser Situation fiel es mir auf, und ich war hingerissen.
     Er sah zu Vittoria. Sein Gesicht war undurchdringlich. Doch ich kannte ihn zu gut und wußte, daß ihm genauso beklommen zumute
     war wie seiner Schwester: seine Unterlippe verzog sich ein wenig, was bei ihm ein Zeichen innerer Erregung war.
    Mir kam die Zeit, die Vittoria für ihren Entschluß brauchte, sehr lang vor; als ich allerdings später daran zurückdachte,
     begriff ich, daß es nur wenige Sekunden gewesen sein können.
    Ich will freiheraus sagen, was ich empfand, als die Signora endlich den Brief aufnahm, mit zitternden Händen das Wachssiegel
     erbrach, den Brief las und noch ein zweites Mal las. Ich empfand Kummer und Enttäuschung. Ich weiß sehr wohl, daß ich eine
     unverbesserliche Herumtreiberin bin und alle zehn Finger brauche, um meine verflossenen Liebhaber aufzuzählen. Aber ich bin
     nicht vor dem Altar getraut und daher wenigstens keine Ehebrecherin. Sie hingegen, meine ich, hat schon in diesem Augenblick
     Signor Peretti betrogen, da sie sehr wohl wußte, was in dem Brief stehen würde.
    Beim Lesen machte Vittoria eine ärgerliche Kopfbewegung, weil das Bürsten sie störte; ich hörte auf und verharrte mit erhobener
     Bürste. Sogar meinen Atem hielt ich an. Ich warf einen Blick in den Spiegel: Marcello hatte sich entfernt, als würde ihn das
     alles nicht

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