Im Rausch der Freiheit
bekrönt. Doch erst als sie den herrlichen Bogen erreichten, den der Riverside Drive hoch über dem Hudson beschrieb, rief Hetty aus: »Da! Das war’s, was ich sehen wollte.«
Das Haus war gerade erst vollendet worden. Das parkähnliche Grundstück nahm einen ganzen Block ein und gewährte einen freien Ausblick auf den tief unten vorbeifließenden Hudson.
Das französische Renaissancechâteau, aus Kalkstein gebaut und mit Türmchen versehen, bot nicht weniger als fünfundsiebzig Zimmer auf. Verglichen damit wirkten selbst die herrschaftlichsten Paläste an der Fifth wegen ihrer winzigen Grundstücke wie Bürgerhäuser. Sein Eigentümer, Mr Charles Schwab, war so klug und so weitsichtig gewesen zu erkennen, dass New Yorks wertvollster Aktivposten die großartige Aussicht auf den Hudson River war, und hatte unter vollkommener Missachtung dessen, was eigentlich gerade en vogue war, seinen Herrensitz wie ein wahrer Fürst genau dort gebaut, wo es ihm beliebte. Vielleicht wussten sie es nicht, aber damit hatte er sie alle – die Astors, die Vanderbilts, alle, ausgenommen vielleicht Pierpont Morgan – weit hinter sich gelassen. Sein ehemaliger Boss und Partner, Andrew Carnegie, brachte es auf den Punkt: »Haben Sie Charlies Haus schon gesehen? Daneben sieht meines aus wie eine Hundehütte.«
Sie ließen den Rolls-Royce mehrere Minuten lang vor der Toreinfahrt halten, um das Anwesen zu bewundern. Rose musste gestehen, dass es, Westside hin oder her, ein würdiges Gesprächsthema war.
»Jetzt«, verkündete Hetty, »fahren wir zur Columbia University.« Sie lächelte. »Wir statten dem jungen Mr Keller einen Besuch ab.«
»Mr Keller?« Rose machte ein langes Gesicht.
»Aber ja, meine Liebe. Dem Sohn meines Freundes Theodor Keller. Er erwartet uns.«
»Oh«, sagte Rose. Und sie sah nachdenklich aus. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, Mr Keller von der Columbia zu treffen.
Die Columbia University konnte bereits auf eine gewisse Tradition zurückblicken. Nachdem sie Mitte des 18. Jahrhunderts als anglikanisches King’s College das Licht der Welt erblickte, wurde sie später umgetauft und in die Stadtmitte verlegt, um schließlich zum herrlichen Grundstück Ecke 115th und Broadway umzuziehen. Der Campus war ausgesprochen ansprechend; ja, die hohe Kuppel der Low Library, die über ihm thronte, hätte Harvard oder Yale alle Ehre gemacht.
Als sie an den Straßenrand fuhren, versuchte Rose es mit der einzigen List, die ihr eingefallen war.
»Ich werde so lange im Wagen warten«, erklärte sie und bedeutete dem Chauffeur, dass er die zwei alten Damen hineinbegleiten sollte.
»Aber das kannst du unmöglich tun, meine Liebe!«, sagte Hetty. »Er weiß, dass du uns hierherfährst. Es wäre schrecklich unhöflich.«
Und so stand sie ein paar Minuten später im gemütlichen Arbeitszimmer eines athletischen Mannes von Ende zwanzig mit dunkelbraunem Haar und strahlend blauen Augen, der drei Sessel vor seinen Schreibtisch gerückt hatte und sich sichtlich aufrichtig freute, sie alle zu sehen.
»Willkommen in meiner Höhle«, sagte Mr Edmund Keller mit einem sympathischen Lächeln. An den Wänden befanden sich Bücherregale, eine Reproduktion der Mona Lisa und eine Photographie von den Niagarafällen, die sein Vater aufgenommen hatte. Ein Blick auf die Buchrücken verriet, dass er Altphilologe und Historiker war. Rose nahm es hin, ihm vorgestellt zu werden, und schwieg dann taktvoll.
»Lily und ich haben erst neulich Ihren Vater gesehen«, erklärte Hetty. »Er hat auf eine Tasse Tee bei mir vorbeigeschaut.«
Rose ließ sie schwatzen. Sie erinnerte sich, dass Theodor Keller in der East 19th Street wohnte, nur einen Steinwurf vom Gramercy Park entfernt, und sie wusste natürlich, dass der alte Frank Master der Gönner des Photographen gewesen war. Soweit war alles schön und gut. Über den Sohn des Photographen aber hatte sie aus unanfechtbarer Quelle, von dem Präsidenten der Columbia University höchstpersönlich, einiges erfahren.
Jener Präsident, Nicholas Murray Butler, war ein angesehener Gelehrter und Philosoph, ein Publizist und Politiker. Präsident Theodor Roosevelt hatte ihn als seinen Freund bezeichnet, und seine Ansichten waren ebenso vernünftig wie konservativ. Jeder sagte, dass er Großes aus der Columbia University machen würde. Wenn sie den jungen Mr Keller also mit einigem Argwohn betrachtete, so fraglos aus gutem Grund.
Kennengelernt hatte sie Mr Butler auf einer Gala und eine ganze Weile mit ihm
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