Im Rausch der Freiheit
auch bei mir vorbeischauen. Es sind nur ein paar Schritte.«
»Das werde ich ganz gewiss tun«, antwortete er.
»Und du, meine Liebe«, sagte die alte Dame, jetzt zu Rose gewandt, »solltest Mr Keller am besten deine Visitenkarte geben, damit er auch euch seine Aufwartung machen kann. Ich bin sicher, William wäre entzückt, mit ihm eine Spazierfahrt zu unternehmen. Dann können sie sich über den Motor unterhalten.«
»Das ist sehr liebenswürdig«, sagte Keller. »Das würde mich freuen!«
Roses Gesicht versteinerte. Das kann ich mir vorstellen, dachte sie. Aber wenn sich Edmund Keller mit seinen sozialistischen Ansichten einbildete, er könnte sich in ihrem Haus einschmeicheln, täuschte er sich gewaltig.
»Ich habe keine Visitenkarte dabei«, log sie heroisch. »Aber ich werde Ihnen eine zukommen lassen«, fügte sie ohne Begeisterung hinzu.
»Ach, lass nur«, sagte Hetty. Sie holte aus ihrem Handtäschchen eine ihrer Visitenkarten und schrieb mit einem kleinen silbernen Stift auf die Rückseite Roses Adresse. »Es ist ganz leicht zu finden. Gerade um die Ecke vom Gotham Hotel.«
»Danke. Ich werde kommen«, sagte Keller, als sie abfuhren.
»Nun«, sagte Hetty, »war das nicht reizend?«
*
Als William am frühen Abend heimkam, erzählte Rose ihm die ganze Geschichte. Er hörte zu und nickte, schien indes mit seinen Gedanken woanders zu sein. Dann bat er den Butler, ihm einen großen Whiskey zu bringen.
»Heute war ein ziemlich schlimmer Tag für die Aktienmärkte«, sagte er.
»Das tut mir leid, mein Lieber.« Sie lächelte verständnisvoll. »Ich bin sicher, sie werden sich erholen …«
»Vielleicht.« Er runzelte die Stirn, trank seinen Whiskey aus und ging nach oben, um nach den Kindern zu sehen. Während des Abendessens schnitt sie das Thema Keller wieder an, und er sagte: »Ich könnte einfach eine Spazierfahrt mit ihm machen, und die Sache wäre erledigt.« Doch das war nicht das, was sie hören wollte. Für sie stand unerschütterlich fest, dass Mr Keller niemals seinen Fuß über ihre Schwelle setzen würde. Nach der Mahlzeit erklärte William, er sei müde, und ging zu Bett.
Sie konnte nur seufzen. Sie würde eben versuchen müssen, mit Keller selbst fertigzuwerden.
*
Am Freitagnachmittag betrat William Vandyck Master die Trinity Church an der Wall Street. Er setzte sich auf eine der hintersten Kirchenbänke und begann zu beten.
Trinity war eine schöne Kirche – und reich, denn ihr gehörten große Teile dieses Stadtviertels. So hatte die Trinity Church in der stetig wachsenden Stadt weitere Kirchen gegründet. Der Kirchenvorstand war immerhin der erste gewesen, der – zu einer Zeit, als viele andere Gemeinden derlei strikt ablehnten – Schulunterricht für die Schwarzen angeboten hatte. Und bei allem Reichtum war das Innere der Kirche wohltuend schlicht geblieben. Es gab ein einziges Buntglasfenster an der Ostseite; alle anderen Fenster bestanden aus farblosem Glas und tauchten den Innenraum in ein sanftes Licht. Die Wände waren holzgetäfelt. William fühlte sich fast an eine Bibliothek oder einen Club erinnert.
William war nicht sehr religiös. Er besuchte Gottesdienste und unterstützte den Pfarrer, weil sich das einfach so gehörte. Er betete nicht oft – eigentlich nur sonntags in der Kirche. Doch obwohl es erst Freitag war, versuchte er jetzt zu beten. Denn er hatte große Angst.
Er stand kurz davor, alles, was er besaß, zu verlieren.
Bei Licht betrachtet, dachte William, gab es nur zwei Möglichkeiten, an der Wall Street viel Geld zu verdienen. Die eine war die konservativere: Man brachte Leute dazu, einen dafür zu bezahlen, dass man ihr Geld verwaltete, oder es auch nur verschob, von einem Ort zum anderen. Das war die Methode des Bankiers. Wenn die Summen groß genug waren, dann konnte sich die Kontoführungsgebühr, oder der winzige Prozentsatz, der für die Transaktion in Rechnung gestellt wurde, auf ein Vermögen belaufen.
Die zweite Methode bestand darin zu spekulieren.
Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, sonderlich weit zu kommen, solange man nur mit dem eigenen Geld spekulierte, nicht sehr groß. Man musste ungeheure Kredite aufnehmen. Leih dir eine Million, mach einen Gewinn von zehn Prozent, zahl die Kreditsumme mit einem geringen Zins zurück, und du hast fast hunderttausend verdient. Aber jede Transaktion, die man vornehmen mochte – die komplexen Wetten, die man auf den zukünftigen Preis dieser oder jener Ware abschloss, der Abschluss von
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