Im Rausch der Freiheit
erarbeite, Freude, fragte er sich. Nicht sonderlich. Erledige ich es gut? Bestenfalls mittelmäßig. Und jetzt hatte er auch noch jämmerlich versagt. Wie fühlte er sich? Beschämt, gedemütigt, wahrscheinlich ungeliebt. Und zum Fürchten allein.
Als er zur Wall Street zurückkehrte, war die Nachricht schon in aller Munde: Morgans Männer waren zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht einmal mehr lohnte, für die Treuhandfirma zu beten. Die Knickerbocker Trust war bankrott. Es bildeten sich schon Schlangen vor den Treuhandfirmen, auch vor seiner eigenen. Die Leute zogen ihre Einlagen ab.
Die Partner hatten festgelegt, was sie in einem solchen Fall tun würden: so langsam wie möglich auszahlen. Den Nachmittag konnten sie auf diese Weise wahrscheinlich überstehen, aber dann? Keine Ahnung. Er betrachtete die Menschenschlange. Sie bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam wie ein Fluss. Nicht einmal Pierpont Morgan konnte einen Fluss zum Stehen bringen.
Am Abend lächelte er sich tapfer durch die Mahlzeit mit seiner Familie. Ja, gestand er den Kindern gegenüber, an der Wall Street sei Panik ausgebrochen. Sie würden darüber in den Zeitungen lesen und darüber hören, aber es werde bald vorbei sein.
»Grundsätzlich ist der Markt gesund«, versicherte er ihnen allen. »Ja, das ist wahrscheinlich ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um zu kaufen.«
*
Am nächsten Tag fanden sich viele Bürger bereits im Morgengrauen vor den Geschäftsstellen der Treuhandfirmen in der Hoffnung ein, ihre Einlagen vor den anderen herauszubekommen. Währenddessen versuchten die Treuhandpartner, Bargeld aufzutreiben. Sobald die Maklerbüros aufmachten, gingen sie dorthin, um ihrerseits ihre Darlehen zu kündigen. Als William Master die Maklerfirma betrat, teilten ihm seine Partner mit: »Wir können von Glück sagen, wenn wir noch diesen Tag überstehen. Spätestens morgen sind wir pleite.«
William verließ das Büro und machte sich wieder auf den Weg zum Bowling Green. Er wollte allein sein, starrte zum grau verhangenen Himmel empor.
Er war erst ein kurzes Stück gegangen, als einer der Schreiber der Treuhandfirma ihn einholte. Er sah ganz aufgeregt aus.
»Kommen Sie schnell, Sir!«, rief er. »Oh, die Rettung naht!«
*
Präsident Theodore Roosevelt pflegte New York City mit Argwohn zu betrachten. Aus gutem Grund. Ein Jahrzehnt zuvor hatte er seine liebe Not damit gehabt, den korrupten Polizeiapparat der Stadt auszumisten. Er war außerdem Zeuge der gewaltigen Unternehmensfusionen gewesen, die J.P. Morgan durchführte und die ihm überhaupt nicht gefielen. Seiner Überzeugung nach lag zu viel Wirtschaftsmacht in zu wenigen Händen. Erst zum Gouverneur von New York gewählt, dann zum Vizepräsidenten bestimmt war er nach der Ermordung von Präsident McKinleys schon im Alter von zweiundvierzig Jahren unerwartet ins Weiße Haus gekommen, wo er weiter gegen die Macht der Wall Street wetterte. Pierpont Morgan selbst brachte Roosevelt allerdings großen Respekt entgegen.
Und so passierte in den frühen Morgenstunden dieses Mittwochs etwas Erstaunliches. Die Regierung der Vereinigten Staaten übergab Pierpont Morgan die ungeheure Summe von fünfundzwanzig Millionen Dollar mit einer einzigen Bitte:
»Tun Sie, was Sie für richtig halten. Aber retten Sie uns.«
Und jetzt begann Jupiter, der größte aller Götter, seine Blitzstrahlen zu schleudern.
*
Wenn William Master später an diese Tage zurückdachte, war es so, als erinnerte er sich an eine große Schlacht: Perioden des Abwartens, Momente plötzlicher Aufregung und Verwirrung und ein paar eindringliche Bilder, die ihn nie wieder loslassen würden. Ausgerüstet mit den staatlichen Geldern und weiteren, noch höheren Summen, die er durch die schiere Kraft seiner Persönlichkeit bei anderen Bankiers mobilisierte, machte sich der alte Pierpont Morgan an die Arbeit. An diesem Mittwoch begann er die Treuhandgesellschaften zu retten. Am nächsten Tag die an der New Yorker Börse zugelassenen Maklerfirmen. Am Freitag, als Europa anfing, Einlagen abzuziehen, und die Kredite so knapp wurden, dass die Wall Street zum Stillstand kam, marschierte Morgan persönlich ins Clearing House und veranlasste die Ausgabe einer eigenen Interimswährung, um die Liquidität wiederherzustellen. Doch der vielleicht größte Beweis seiner Autorität zeigte sich an dem Abend, als er die Geistlichen von New York zu sich nach Hause bestellte und ihnen sagte: »Sie werden ja am Sonntag predigen. Folgendes werden Sie
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