Im Rausch der Freiheit
sagen.«
Morgan brauchte zwei Wochen, um das Finanzsystem zu retten. Als während dieser Periode die Stadtverwaltung erklärte, ebenfalls kurz vor der Zahlungsunfähigkeit zu stehen, rettete er New York City auch noch. In einem letzten Akt bestellte er die größten Bankiers und Treuhänder der Wall Street zu einem Treffen in seiner herrschaftlichen Bibliothek ein, schloss die Tür ab und weigerte sich, die Herren wieder hinauszulassen, ehe sie sich nicht zu den notwendigen Maßnahmen bereit erklärten.
Das Bild aber, das William Master unauslöschlich im Gedächtnis blieb, entstand an diesem Freitag in der Wall Street selbst. Er ging die Straße in westlicher Richtung entlang, als er die Hauptkreuzung erreichte. Zu seiner Linken, an der Ecke, Hausnummer 23, das House of Morgan. Gegenüber die prächtige Fassade der New York Stock Exchange, der Börse. Zu seiner Rechten die Federal Hall und, ein Stück die Nassau Street hinauf, das Clearing House. Geradeaus, nur knapp hundert Yard weiter, Broadway und Trinity Church. Hier befand sich das genaue Zentrum der amerikanischen Finanz – und zumindest für eine Woche die Kommandobrücke der ganzen Welt.
Und genau in dem Moment, als William Master hier entlangschritt, öffnete sich die Tür von Hausnummer 23, und Morgan kam herausmarschiert. Die Straße war voll von Menschen. Millionäre und Direktoren, Büroschreiber und Laufburschen, alle wimmelten sie zwischen Stock Exchange und Federal Hall hin und her. Da waren Broker, für Morgan nicht gesellschaftsfähige Gesellen, die dennoch, nachdem er sie gerettet hatte, dankbar seinen Namen laut erschallen ließen. Da waren Treuhänder, die er schlicht verachtete, die aber vor seiner Tür kampierten, um ihm um Krumen seiner Gnade anzubetteln. Sämtliche Sorten von Wall-Street-Volk füllten das enge Finanzforum, als der groß gewachsene, stämmige Bankier mit seinem hohen Zylinder entschlossenen Schrittes aus seinem Tempel trat.
Jupiter blickte nicht nach links noch rechts. Seine Augen glühten wie brodelnde Vulkankrater. Seine knollige Nase ragte aus seinem Gesicht wie ein Berg, von dem sich sein Schnauzbart wie zwei silberne Lavaströme zu Tal ergoss.
Während er die Straße entlangeilte, teilte sich die Menge vor ihm, wich beiseite wie Sterbliche vor einer Gottheit. Und so geziemte es sich auch, dachte William. Morgan mochte seine Kirche unterstützen und gern mit Bischöfen zusammensitzen, doch wenn er vom Finanzolymp auf die Wall Street herabstieg, schwebte er über den Sterblichen. Dann war Morgan wahrhaft Jupiter, der König der Götter.
*
Doch leider Gottes war er auch immer noch ein Mensch. In den folgenden Monaten wurde eine bange Frage immer wieder laut: »Morgan wird nicht ewig bei uns sein. Was werden wir bei der nächsten Krise tun?«
Manche sprachen sich für eine stärkere Regulierung aus, doch William Master hielt das für eine ganz schlechte Idee.
»Die Dinge sind ein bisschen außer Kontrolle geraten«, räumte er ein. »Aber wir brauchen keinen Sozialismus. Die Banken können sich selbst regulieren so wie in London auch.«
Es mussten noch sechs Jahre vergehen, ehe ein Notenbanksystem mit begrenzten Befugnissen eingerichtet wurde.
Für William jedoch kehrte das Leben schon bald zur Normalität zurück. Als seine Frau ihn fragte: »Hätten wir um ein Haar alles verloren?«, beruhigte er sie.
»Ich nehme an, wenn alle Treuhandgesellschaften Bankrott gemacht hätten, wären wir vermutlich ebenfalls zahlungsunfähig geworden. Doch wir waren nie in ernster Gefahr.« Seine Worte trösteten Rose so sehr, dass er nach einer Weile fast selbst daran glaubte.
Am ersten Wochenende im November unternahm er ganz allein eine fünfzig Meilen weite Fahrt mit dem Rolls. Er hatte zuerst daran gedacht, den jungen Keller mitzunehmen, sich aber dann dagegen entschieden. Das hätte Rose, sofern sie davon erführe, nur unnötig geärgert.
*
Wenngleich die Börsenpanik von 1907 auch das Leben des jungen Salvatore Caruso verändern sollte, so war es doch ein unbedeutendes Ereignis im Monat davor, das ihm für immer im Gedächtnis haften blieb.
Er hatte sich feingemacht und trug den Anzug mit der langen Hose, der von seinem älteren Bruder stammte. Sein weißes Hemd war makellos. Er hätte auf dem Weg zu seiner ersten Kommunion sein können. Aber für alle, ausgenommen seine Mutter natürlich, war das heutige Treffen sogar noch wichtiger als eine Erstkommunion. Deswegen wollte er den Auftrag so schnell wie möglich
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