Im Rausch der Freiheit
»Schnell, Toto, hol deinen Bruder Angelo!«
»Wir wussten es nicht«, pflegte sein Vater gern zu sagen, »aber als wir in Ellis Island landeten, gehörte Angelo schon zur Familie.« Zur Welt kam er acht Monate nach ihrer Ankunft in Amerika. Inzwischen war Angelo sechs und noch immer das Baby der Familie. Sie alle liebten den kleinen Jungen, nur sein Vater konnte gelegentlich eine gewisse Unzufriedenheit nicht verleugnen. Angelo war klein für sein Alter. Und sehr verträumt. »Er schlägt nach seinem Onkel Luigi«, seufzte Giovanni Caruso oft. Anna nahm ihren kleinen Bruder immer in Schutz. »Er ist sensibel und gescheit«, erklärte sie, was allerdings niemanden sonderlich beeindruckte.
Salvatore lief ins Haus, ein typisches Mietshaus der Lower East Side. Ursprünglich war es ein fünfgeschossiges Reihenhaus mit einer steilen Vortreppe gewesen. Aber der Eigentümer erkannte schon vor Langem, dass er auf ganz einfache Weise seine bescheidenen Mieteinnahmen verdoppeln konnte. Indem er mit einer geringen Investition nach hinten in den kleinen Hof hinein ausgebaut hatte, war es ihm gelungen, die vermietbare Wohnfläche zu verdoppeln. Und da die Eigentümer des Nachbarhauses und des Hauses auf der Parallelstraße, das nach hinten raus auf denselben Hof stieß, die gleiche Idee gehabt hatten, bekam das Hinterhaus nur aus zwei dürftigen Quellen Luft: einem engen Luftschacht zwischen diesem und dem nächsten Haus und dem winzigen Hof, auf dem die zwei Latrinen standen, die für die Bedürfnisse sämtlicher Mieter genügen mussten.
Als ihre Cousins ihnen das Haus gezeigt hatten, gleich am Tag, nachdem sie durch Ellis Island geschleust worden waren, reagierten Giovanni und Concetta Caruso entsetzt. Bald stellten sie jedoch fest, dass sie sich glücklich schätzen konnten. Sie bewohnten drei Zimmer im obersten Geschoss nach vorn raus. Sicher, um da hinzukommen, musste man das stinkende Treppenhaus hinaufsteigen, aber dann bekam man frische Luft von der Straße, und man konnte rauf aufs Dach, wo auch die Wäsche aufgehängt wurde.
Als Salvatore in die Wohnung stürmte, stand Angelo im hinteren Zimmer. Er hatte sein Hemd an, doch es hing noch über der Hose. Und er starrte jammervoll auf seine Füße.
»Du bist sechs Jahre alt und kannst dir immer noch nicht die Schuhe zubinden?«, rief Salvatore ungeduldig aus.
»Ich hab’s grad versucht.«
»Halt still.« Am liebsten hätte er seinen kleinen Bruder so, wie er war, die Treppe hinuntergezerrt, aber Angelo wäre bestimmt über seine Schnürsenkel gestolpert. Also bückte er sich und band sie ihm hastig zu. »Du weißt, wen wir treffen?«, fragte er.
»Nein, hab ich vergessen.«
»Idiot! Wir treffen den größten Italiener der Welt!«
Er sagte nicht »den größten Italiener, der je gelebt hat«. Denn das war Kolumbus. Nach ihm kam, für die Norditaliener, Garibaldi, der Freiheitskämpfer, der Einiger Italiens, der erst ein Vierteljahrhundert zuvor gestorben war. Doch für die Süditaliener von New York gab es nur einen großen Helden, dazu einen, der noch lebte und der sich mitten unter ihnen niedergelassen hatte.
»Caruso!«, rief Salvatore. »Den großen Caruso, der genauso heißt wie wir! Wir werden Caruso sehen! Wie kannst du so was vergessen?«
Ihrem Vater galt Enrico Caruso als Gott. In Amerika mochte die Oper die Domäne der Reichen sein, aber die italienische Gemeinde verfolgte die Laufbahn des großen Tenors so aufmerksam wie die Taten und Schlachten eines großen Feldherrn.
»Er hat auf der ganzen Welt gesungen«, erzählte sein Vater gern. »In Neapel, Mailand, London, Sankt Petersburg, Buenos Aires, San Francisco … Er hat mit der Melba gesungen. Jetzt singt er mit Geraldine Farrar. Toscanini dirigiert ihn. Und was sagte kein Geringerer als der große Puccini, als er Caruso zum ersten Mal singen hörte? ›Wer hat Sie mir geschickt? Gott selbst?‹« Er war nicht bloß Italiener, sondern gebürtiger Neapolitaner und trug sogar denselben Namen wie sie! »Wir sind verwandt«, erklärte sein Vater oft, doch als Salvatore ihn einmal gefragt hatte wie, zuckte sein Vater mit den die Achseln: »Wer könnte so was schon wissen?«
Und heute würden sie ihn persönlich kennenlernen.
Zu verdanken war das Onkel Luigi. Er hatte Arbeit in einem Restaurant in der Nähe gefunden. Keinem vornehmen – dies war schließlich das arme italienische Viertel. Die reicheren Norditaliener, die Ärzte, die Geschäftsleute, die Gebildeten, die auf ihre Landsleute aus dem
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