Im Rausch der Freiheit
Süden herabsahen – sie fast als Tiere betrachteten –, die wohnten in ganz anderen Stadtteilen – vorzugsweise Greenwich Village –, und dort gab es feine Restaurants.
Aber Caruso hatte nie seine arme neapolitanische Heimat vergessen. Er aß gern unten in Little Italy, und kürzlich war er ins Restaurant gekommen, in dem Onkel Luigi arbeitete, und Onkel Luigi hatte ihn gefragt, ob er ihm, wenn er das nächste Mal käme, seine Familie vorstellen dürfe, und der große Mann mit dem großen Herzen hatte »Sicher!« gesagt. Heute aß er dort also zu Mittag.
Salvatore hatte Angelo gerade glücklich die Treppe heruntergebracht, als der kleine Bruder sagte, er müsse Pipi machen. Mit einem entnervten Ausruf führte Salvatore ihn zur Hoftür und schob ihn in Richtung Latrinen. »Beeil dich!«, rief er ihm hinterher, während er gereizt neben der Tür wartete. Ein paar Augenblicke später kam Angelo heraus. »Beeil dich!«, rief Salvatore noch einmal.
Dann hatte er noch einmal gerufen. Zu spät.
Trotz der Existenz der Gemeinschaftsklos kippten die Leute im Hinterhaus ständig ihren Unrat aus dem Fenster, um irgendwann später aufzuwischen. Der Weg zu und von den Latrinen war daher kein ungefährlicher. Alle wussten, dass man, wenn man über den Hof ging, immer ein Auge nach oben haben musste. Alle außer Angelo.
Der Schwall von Schmutzwasser kam aus einem Kübel, den jemand gerade zum Bodenwischen benutzt hatte. Eine schwarze Brühe. Der kleine Angelo schaute gerade rechtzeitig nach oben, um die ganze Ladung voll ins Gesicht zu bekommen. Er fiel zu Boden. Sein Hemd war pitschnass und dreckig. Einen Augenblick lang saß der Junge in der schwarzen Pfütze und brachte vor Schreck kein Wort heraus. Dann fing er an zu plärren.
»Stupido! Dummkopf!«, schrie Salvatore. »Schau dir dein Hemd an! Du blamierst uns!« Er packte seinen kleinen Bruder an den Haaren und zerrte das heulende Kind den Korridor entlang und hinaus auf die Straße, wo die Familie ihn mit entsetztem Geschrei empfing.
Sein Vater warf die Hände in die Luft und fing an, Salvatore Vorwürfe zu machen. Salvatore brüllte zurück, das sei nicht gerecht. Konnte er vielleicht was dafür, dass sein Bruder sich die Schuhe nicht zubinden konnte und zu blöd war aufzupassen, wenn er aufs Klo ging? Sein Vater machte eine ungeduldige Geste, widersprach ihm aber nicht. Inzwischen war seine Mutter mit Angelo nach oben gegangen.
»Soll er doch zu Hause bleiben«, schimpfte Salvatore, »anstatt uns zu blamieren!« Doch schon wenige Minuten später war sein kleiner Bruder wieder unten mit zerknirschtem Gesicht, geschrubbtem Kopf und in einem Hemd, das zwar viel älter als das vorige war, dafür blütensauber. Endlich brachen sie auf.
Die italienischen Straßen waren fast so überfüllt wie die des angrenzenden Judenviertels, und trotzdem gab es Unterschiede. Manche von ihnen waren von kleinen Schatten spendenden Bäumen gesäumt. Hier und da unterbrach eine schöne katholische Kirche, bisweilen mit einem ummauerten Friedhof, die lange Häuserfront. Darüber hinaus besaß jede Straße ihren eigenen Charakter. Die Menschen aus der Gegend um Neapel lebten größtenteils auf der Mulberry Street, die Kalabrier auf der Mott und die Sizilianer auf der Elizabeth, wobei jede Stadt einen bestimmten Straßenabschnitt einnahm. Auf diese Weise schufen sie sich ihre Heimat, so gut es ging, nach.
Concetta allerdings war hier nicht heimisch geworden. Wie denn auch, hatte sie doch ihr ganzes früheres Leben im warmen italienischen Süden verbracht? Sie mochten damals arm gewesen sein, aber sie hatten ihr eigenes Land, ihr Dorf, den Blick auf die Mittelmeerküste und die Berge. Hier umgab sie lediglich der Lärm und das Getöse enger Straßen, und jenseits davon begann eine endlose ungezähmte Wildnis. Dieser Ort nannte sich eine Stadt, doch wo waren die piazze, die Plätze, auf denen man sitzen und plaudern und sich sehen lassen konnte? Wo befand sich überhaupt das Zentrum?
Sicher, am unteren Ende der Mulberry Street – wo die Stadtverwaltung eine Gruppe von Mietskasernen, die in ihrer Verwahrlosung sogar den angrenzenden Five Points Konkurrenz machten, endlich abgerissen hatte – gab es jetzt zu Füßen der Kirche der Verklärung des Herrn einen kleinen Park. Da gingen die Leute hin, das schon, aber es war einfach nicht so wie in Italien.
»Hier ist alles so hässlich«, seufzte Concetta oft.
So schrecklich Amerika auch sein mochte, hier verdiente man immerhin Geld. Eine
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