Im Rausch der Freiheit
du denn nicht, was er da macht, Giovanni? Er wird eine Weile warten, und dann verschwindet er mit dem ganzen Geld. Er lacht dich aus, Giovanni, hinter deinem Rücken!«
»Du verstehst von solchen Dingen nichts, Concetta. Signor Rossi ist ein Mann von Ehre.«
»Ehre? Ihr Männer seid Dummköpfe! Jede Frau kapiert sofort, was für ein Spiel er treibt!«
Salvatore hatte seine Mutter noch nie so respektlos zu seinem Vater sprechen hören. Er war neugierig, was jetzt passieren würde. Aber sein Vater zog es vor, darüber hinwegzugehen; die Sache war schon für sich zu schlimm, um sich noch über etwas anderes aufzuregen.
»Paolo und Salvatore müssen jetzt arbeiten gehen«, sagte ihr Vater leise. »Es ist an der Zeit, dass sie mithelfen, so wie Anna das schon tut. Arbeit gibt es mehr als genug. Maria und Angelo werden vorerst auf der Schule bleiben. In ein paar Jahren, wenn wir uns wieder hochgearbeitet haben, werden bessere Zeiten kommen.«
Salvatore war erleichtert. Endlich brauchte er nicht mehr zur Schule zu gehen und war daher von dem Versprechen, das er dem großen Caruso gegeben hatte – fleißig zu lernen – entbunden. Und er und Paolo waren draußen auf der Straße so beschäftigt und sahen den kleinen Angelo nur selten, sodass es wahrhaft nicht schwerfiel, bei diesen wenigen Gelegenheiten nett zu ihm zu sein. Sie fanden viele Möglichkeiten, auf der Straße Geld zu verdienen, aber in erster Linie betätigten er und Paolo sich als Schuhputzer. Sie gingen rüber nach Greenwich Village und putzten den Italienern, die dort zu Mittag aßen, die Schuhe. Sie fanden eine italienische Firma, die ihnen erlaubte, ins Verwaltungsbüro zu gehen und den Männern, die dort arbeiteten, die Schuhe zu putzen. Da sie zusammen arbeiteten, wechselten sie sich darin ab, wer putzte und wer wienerte – obwohl selbst Paolo zugeben musste, dass Salvatore jeden Schuh blanker bekam, als er selbst es fertigbrachte. »Es muss was in deiner Spucke sein«, sagte er bedauernd, »was ich nicht geerbt habe.«
Für seine Mutter bedeutete der Verlust ihrer Ersparnisse eine neue Arbeitseinteilung. Im hellsten ihrer drei kleinen Zimmer wurde, nah am Fenster, eine Nähmaschine aufgestellt. Dort arbeiteten sie und Anna in stündlichem Wechsel für Stücklohn. Die Sache brachte nur wenig ein, aber wenigstens konnten sie zu Hause bleiben, sich um die kleinsten Kinder kümmern und für die ganze Familie kochen, während sie gleichzeitig ein bisschen dazuverdienten. Nach ihrem ersten Wutausbruch verlor Concetta nie wieder ein Wort über Signor Rossi, doch Salvatore wusste, dass sie unmöglich glücklich sein konnte. Eines Abends hörte er seine Eltern auf dem Dach leise miteinander reden. Die Stimme seines Vaters war sanft, einschmeichelnd, wenn Salvatore auch nicht hören konnte, was er genau sagte. Doch er hörte die Worte seiner Mutter.
»Keine Kinder mehr, Giovanni. Nicht auf diese Weise. Ich bitte dich.«
Er verstand, was das bedeutete.
Gegen Ende des Jahres ging er gerade zusammen mit seinem Vater die Mulberry Street entlang, als plötzlich Onkel Luigi aus seinem Restaurant herausgelaufen kam. Sie müssten sofort kommen, sagte er. Der große Caruso speise gerade drinnen und wolle sie sprechen.
Caruso begrüßte sie herzlich und erkundigte sich nach der ganzen Familie. »Richten Sie meine besten Empfehlungen an Ihre Frau aus«, sagte er zu Giovanni, der versprach, es zu tun. Ging es ihnen allen gut?, fragte er dann.
»Assolutamente« ,versicherte ihm Giovanni. »Alles läuft bestens.«
»Bene. Bene« ,sagte Caruso. »Und du bist lieb zu deinem Bruder?«, fragte er streng, zu Salvatore gewandt.
»Ja«, versicherte Salvatore, das war er.
»Und du strengst dich auf der Schule richtig an?«
»Er strengt sich so an wie niemals vorher«, warf sein Vater ein, bevor Salvatore etwas sagen konnte. Salvatore sah, wie sein Onkel Luigi verblüfft die Augen aufriss, aber Caruso schaute gerade nicht in seine Richtung, also bekam er das nicht mit. Er zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Giovanni.
»Zwei Eintrittskarten für die Oper, für Sie und Ihre Frau.« Er strahlte. »Werden Sie kommen?«
»Natürlich!« Giovanni Caruso stotterte Worte des Dankes.
Sie waren nach diesem Gespräch schon ein Stück weit die Straße entlanggegangen, als der Vater sich zu Salvatore wandte.
»Ich konnte ihm unmöglich von unserem Unglück erzählen, Toto«, sagte er verlegen. »Ich konnte ihm nicht sagen, dass du nicht mehr zur Schule
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