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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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entdeckt er plötzlich, dass seine Geliebte Aida – die, wie er glaubte, ihn schmählich verraten hatte – sich dort versteckt hält, um sein Schicksal zu teilen. Und genau in dem Moment, als die zwei Liebenden ihr abschließendes, herzzerreißendes Duett in der Finsternis anstimmten, warf Salvatore seinem Vater einen Blick zu.
    Giovanni Carusos Gesicht war leicht nach oben gerichtet. Ein ganz gewöhnliches Gesicht – breit und dunkel, wie Landarbeiter aus dem Mezzogiorno aussahen. Doch im Profil betrachtet erschien es dem Jungen ebenso schön und vornehm wie das eines römischen Patriziers. Und im schwachen Licht konnte Salvatore erkennen, dass das Antlitz seines Vaters, wenngleich vollkommen reglos, tränennass war.
    Er wäre zutiefst erstaunt gewesen zu erfahren, dass eine elegante Dame namens Rose Vandyck Master bereits aufgestanden war, um ihre Loge noch vor Ende der Oper zu verlassen.
    *
    Im folgenden Frühjahr hatte Salvatore seinen einzigen Streit mit seinem Bruder Paolo. Es passierte, während sie, wie gewohnt, in einem überfüllten Büro Schuhe putzten.
    Es war unglaublich, wie schnell die Leute die Börsenpanik des vergangenen Herbstes vergessen zu haben schienen. Die Geschäfte liefen gut. Die Männer in dem Büro verdienten offenbar viel Geld, und wenn sie guter Laune waren, kam es sogar vor, dass sie den Jungen am Ende einen ganzen Dollar Trinkgeld gaben. So auch an diesem Tag. Sie hatten gerade ein halbes Dutzend Paar Schuhe fertig poliert und waren bezahlt worden, als einer der Männer, der am Telephon sprach, die Hand ausstreckte und Salvatore, schon während die zwei Bruder zur Tür gingen, einen Dollar gab.
    Sie standen bereits vor dem Aufzug, als Salvatore den Schein ansah und bemerkte, dass es gar kein Dollar war, sondern ein Fünfer. Er zeigte ihn Paolo.
    Es war mit Sicherheit ein Versehen, und ein durchaus nachvollziehbares. Zwar zeigte der Ein-Dollar-Schein auf der Vorderseite einen Weißkopfseeadler und die Porträts von Lincoln und Grant, während auf dem Fünf-Dollar-Schein der große Lakota-Häuptling Running Antelope prangte. Aber die zwei Banknoten wiesen exakt dieselben Abmessungen auf, und der Mann war abgelenkt gewesen.
    »Wir sagen es ihm wohl am besten«, meinte Salvatore.
    »Bist du verrückt?« Paolo sah ihn verächtlich von oben herab an. Bis vor gar nicht langer Zeit war Paolo nur ein bisschen größer als Salvatore, doch letztes Jahr hatte er so plötzlich angefangen, in die Höhe zu schießen, dass er jetzt schon fast so groß wie ihr Vater war. »Giuseppe ist nie so gewachsen«, erklärte ihre Mutter. »Vielleicht liegt’s an Amerika, dass er so lang wird.« Sie schien über Paolos plötzliche Körpergröße nicht sonderlich erfreut zu sein. Und vielleicht Paolo selbst auch nicht, denn seine Stimmung schien sich zu verändern. Er und Salvatore waren bei allem, was sie taten, unzertrennlich, aber irgendwie war er nicht mehr so wie früher zu Scherzen aufgelegt. Und manchmal, wenn sie zusammen unterwegs waren und Salvatore zu ihm aufschaute, dann wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was seinem Bruder gerade durch den Kopf ging.
    Salvatore fand die Idee gar nicht so verrückt. Fünf Dollar waren eine riesige Geldsumme. Der Mann hatte sich mit Sicherheit geirrt. Das Geld zu behalten erschien Salvatore unehrlich.
    »Er hat sich vertan. Das kommt mir vor wie Diebstahl.«
    »Das ist sein Problem. Woher sollen wir wissen, ob er uns nicht wirklich einen Fünfer geben wollte?«
    »Wenn er das erst merkt, wird er stinksauer«, konterte Salvatore, »und dann kriegt er einen Hass auf uns. Außerdem ist er immer anständig zu uns. Wenn wir ihm die fünf Dollar zurückbringen, freut er sich vielleicht so, dass wir sie behalten dürfen.«
    »Du kapierst gar nichts, was?«, zischte Paolo. Allmählich sah er richtig wütend aus. In dem Moment kam der Aufzug an, und er stieß Salvatore hinein und bedeutete ihm mit einer Geste, den Mund zu halten. Erst als sie das Gebäude verlassen hatten, sah er seinen Bruder wieder an.
    »Weißt du, was er von uns denken würde, wenn wir ihm den Fünfer zeigen? Er würde uns verachten. Das hier ist New York, Toto, und kein Nonnenkloster. Hier schnappst du dir alles, was du kriegst.« Als er merkte, dass Salvatore nicht überzeugt war, packte er ihn an der Schulter und schüttelte ihn. »Was glaubst du, was diese Männer den ganzen Tag lang machen? Sie handeln. Sie kaufen und verkaufen. Wenn du einen Fehler machst, zahlst du drauf. Wenn du

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