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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gewinnst, wirst du reich. Das sind die Regeln. Du willst das Geld nicht nehmen? Die halten dich für einen Versager.«
    »Papá sagt, es ist wichtig, dass die Leute einem vertrauen«, sagte Salvatore hartnäckig.
    »Papá? Was weiß der denn schon? Papá hat Signor Rossi vertraut, und jetzt ist unser ganzes Geld weg. Unser Vater ist ein Idiot. Ein Versager. Hast du das noch nicht kapiert?«
    Salvatore starrte seinen Bruder entsetzt an. Noch nie hatte er jemanden so über ihren Väter sprechen hören. Paolos Gesicht war zu einer Maske der Wut verzerrt. Er sah richtig hässlich aus.
    »Sag nicht so was!«, schrie Salvatore.
    Als sie an dem Abend heimkamen, legten sie wie immer ihr ganzes Geld auf den Tisch, damit ihre Mutter es nahm. Paolo hatte den Fünfer in Ein-Dollar-Scheine gewechselt, aber trotzdem staunte sie über die Summe. »Das habt ihr verdient? Das ist doch nicht etwa gestohlen?«, fragte sie argwöhnisch.
    »Ich würde niemals stehlen«, erklärte Salvatore, und damit gab sie sich zufrieden.
    In den folgenden Monaten wurde Salvatore, auch wenn Paolos gute Laune zum Teil zurückkehrte, das Gefühl nicht los, dass sich zwischen ihm und seinem Bruder eine unsichtbare Kluft aufgetan hatte. Sie sprachen nie darüber.
    Dafür kamen er und seine Schwester Anna sich näher. Wenn er sie früher als herrschsüchtig empfunden hatte, schien der Altersunterschied zwischen ihnen nun, wo er älter war und arbeiten ging, keine so große Rolle mehr zu spielen. Er erkannte außerdem, wie viel sie zusammen mit ihrer Mutter im Haus schaffte, und er versuchte ihr zu helfen. Die zwei Jüngsten waren einen Teil des Tages in der Schule, aber wenn sie heimkamen, war es Anna, die sich um sie kümmerte und das Abendessen kochte, während ihre Mutter nähte. Insbesondere bemühte sie sich, Angelo von ihrem Vater fernzuhalten, der die verträumte Art seines jüngsten Sohnes bei aller Liebe schlecht ertrug. Mit der kleinen Maria gab es weniger Probleme. Pausbäckig und mit strahlenden Augen war sie der Liebling der ganzen Familie.
    Concetta saß den größten Teil des Tages im vorderen Schlafzimmer an einem kleinen Tisch, auf dem eine auf Raten angeschaffte Singer-Nähmaschine stand. Dort nähte sie im Akkord für eine Bekleidungsfirma. Anna in einem kleinen Sessel neben ihr erledigte die Handnähte. Im Sommer war es erträglich, aber an den langen Winterabenden wurde es zu einer einzigen Plackerei. Im Haus gab es nur Gasbeleuchtung, und selbst beim zusätzlichen Licht einer Petroleumlampe starrten die zwei Frauen oft besorgt auf ihre Arbeit, und manchmal schüttelte ihre Mutter den Kopf und sagte zu Anna: »Du hast jüngere Augen. Sag mir, ob diese Naht gerade ist.«
    Salvatore wusste, dass in der ganzen Lower East Side jüdische und italienische Frauen in engen Zimmern über der gleichen Arbeit hockten. Manche Familien gründeten in ihren Wohnungen kleine Betriebe, in denen sie für einen Hungerlohn Mädchen, die sogar noch ärmer als sie waren, in Schichten rund um die Uhr arbeiten ließen. So funktionierte damals die ganze Bekleidungsindustrie. Anna kam vom Auftraggeber mit einem großen Stapel zugeschnittener Stoffstücke auf dem Kopf nach Haus. Wenn die Kleidungsstücke fertig genäht waren, bot sich Salvatore manchmal an, sie an ihrer Stelle zurückzubringen.
    An einem Abend im Juni war er wieder mit einem solchen Packen unterwegs, als er einen Schwarm junger Frauen sah, die gerade aus einem Gebäude herauskam. Die meisten Mädchen waren Jüdinnen, aber es schien sie nicht zu stören, dass der neugierige italienische Junge sie fragte, was sie denn für eine Arbeit machten. Sie beantworteten vergnügt seine Fragen und gingen dann ihres Weges. Auf dem Heimweg dachte Salvatore über das nach, was er erfahren hatte. Beim Abendessen erzählte er es seiner Familie.
    »Es gibt da so einen Betrieb, wo sie Kleider herstellen. Da arbeiten jede Menge Mädchen in Annas Alter. Sie arbeiten in einem großen Raum mit hoher Decke und elektrischem Licht und Reihen über Reihen von Nähmaschinen. Der Lohn ist gar nicht so schlecht, und sie haben feste Arbeitszeiten. Vielleicht könnte Anna auch da hingehen.«
    Solche Dinge konnte nur sein Vater entscheiden. Und Giovanni Caruso konnte bei der Vorstellung, dass Anna außerhalb des Hauses arbeiten sollte, nur den Kopf schütteln; seine Frau allerdings hielt die Sache für einer Überlegung wert.
    »Anna verdirbt sich zu Hause die Augen«, sagte sie. »Sie ist blind, noch bevor sie einen Mann

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