Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Essen mit der alten Hetty, aber sie hatte zusätzlich Zeit eingeplant, um sicher zu sein, dass alles wunschgemäß ablief. Als sie in den Wagen einstieg, teilte sie dem Chauffeur mit, dass sie einige Leute abholen müssten. Sobald sie losgefahren waren, nannte sie ihm die Adresse. Der Chauffeur warf einen erstaunten Blick in den Rückspiegel und fragte sie, ob nicht ein Irrtum vorliege.
    »Ganz und gar nicht«, sagte sie. »Fahren Sie zu.«
    Das Letzte, was Rose wollte – wozu sie sich auch nicht zwingen lassen würde –, wäre es, sich mit der alten Hetty Master anzulegen. Sie hatte sich mit William darüber unterhalten. »Habe ich Unrecht?«, fragte sie ihn. »Nein«, antwortete er, »aber du kannst sie nicht daran hindern.« Diskussionen mit seiner Großmutter waren vorausgegangen, in denen sie sanft darauf hinwies, warum dieses Essen vielleicht keine so gute Idee sei. Aber Hetty blieb eisern. Außerdem fingen die Leute schon an, darüber zu reden. Hettys Name war in aller Munde, und Rose befürchtete – mit gutem Grund –, dass die Zeitungen den Namen der alten Dame erwähnen könnten. Es musste etwas geschehen.
    Also schmiedete Rose einen Plan, der ebenso raffiniert wie hinterlistig war. Sie hatte einen Journalisten, den sie kannte – einen vernünftigen Mann, auf den sie sich verlassen konnte –, beauftragt, einen Artikel zu schreiben. Mit etwas Glück würde es vielleicht gelingen, die Sache zu einem guten Ende zu bringen, ohne Hetty persönlich allzu sehr zu brüskieren. Aber so oder so – eines stand für sie außer Frage: Der Name Master durfte unter keinen Umständen in den Schmutz gezogen werden.
    *
    Edmund Keller schritt zügig die Fifth Avenue entlang. Er bewegte sich gern, und die kalte Luft an seinem Gesicht tat ihm gut. Er hatte den ersten Teil des Vormittags bei der Familie seiner Tante Gretchen verbracht, oben an der 86th Street. Wie viele andere Bewohner des alten »Kleindeutschland« auch waren sie schon vor Langem nach Yorkville umgezogen, einem Bezirk in der Upper East Side, wo die 86th Street mittlerweile der »deutsche Broadway« genannt wurde. Gretchen war ein paar Jahre zuvor gestorben, aber er hielt nach wie vor engen Kontakt zu ihren Kindern und deren Angehörigen.
    Bis zum Gramercy Park waren es nur rund fünfundsechzig Blocks. Die konnte er an einem so klaren, kalten Tag wie heute bequem laufen. Ein Dutzend Blocks in zehn Minuten, von Norden nach Süden. Wenn man weiter in die Stadt kam, wurden die Blocks länger, doch er brauchte nur von der Fifth hinüber zur Lexington zu gehen.
    Hetty Master hatte ihn zum Mittagessen eingeladen. Die alte Dame musste über neunzig sein, schätzte er, und so wollte er sie nicht enttäuschen. Zuletzt war er ihr bei seinem Väter begegnet, eine Woche zuvor. Das Gespräch drehte sich um die ungewöhnlichen Vorkommnisse unter den Mädchen in der Bekleidungsindustrie gekreist. Vielleicht wollte sie ja darüber reden. Ihm war es eigentlich gleichgültig. Wenn er die alte Dame zufriedengestellt hatte, würde er zu seinem Vater laufen und zum Abendessen bleiben.
    Sonntags ging’s auf der Fifth Avenue ruhig zu. Er passierte die rote Backsteinfassade des Metropolitan Museum und ging weiter die lange Front von Millionärspalästen entlang, die auf den Central Park blickten. In den Fifties überquerte er die Straße, um einen Schwarm von Leuten zu umgehen, der sich von der St. Patricks Cathedral auf den östlichen Bürgersteig ergoss. Auf Höhe der 42nd bemerkte er, dass die neue Bibliothek mit ihrer prachtvollen klassizistischen Fassade nahezu vollendet war. Doch erst, als er die 23rd erreicht hatte – dort, wo der Broadway diagonal die Fifth durchschnitt –, breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus.
    Da war es: das Flatiron Building.
    Es gab in Uptown durchaus schon ein paar hohe Gebäude, aber erst wenn man das »Bügeleisengebäude« erreichte, gelangte man in das Reich der richtigen Wolkenkratzer. Doch selbst dort war das Flatiron Building einmalig in seiner Art. Über zwanzig Stockwerke hoch, an der Schnittstelle der zwei großen Boulevards über einem dreieckigen Grundriss errichtet, dessen Spitze zum Madison Square wies, war es eines der elegantesten Wahrzeichen der Stadt. Die Eckbüros waren besonders begehrt.
    Edmund Keller liebte Wolkenkratzer. Es lag vermutlich nahe, dass Geschäftsleute und Bankiers in der überbevölkerten Welt der Wall Street versuchten, aus ihren Grundstücken den größtmöglichen Nutzen herauszuschlagen, und

Weitere Kostenlose Bücher