Im Rausch der Freiheit
Sommer«, sagte sie zu ihm, »haben wir zugeschaut, wie einige Harvard-Männer einen Akt von Addisons Cato aufführten. Wie ich gehört habe, soll noch im Laufe des Jahres das ganze Stück in unseren amerikanischen Kolonien inszeniert werden. Wissen Sie, ob es auch nach New York kommt?« Die Frage hatte durchaus Bezug zum Zenger-Prozess. Denn Addison, Mitbegründer der Londoner Zeitung The Spectator und ein Vorbild für jeden zivilisierten englischen Gentleman, hatte mit seiner Darstellung des Kampfes eines vornehmen römischen Republikaners gegen Cäsars Tyrannei riesigen Erfolg gehabt. Der Ruf der Tragödie hatte schon längst den Atlantik überquert, und sie war sich sicher, dass ihr Tischherr in den Zeitungen darüber gelesen haben musste. Doch sie erntete lediglich ein »Weiß nicht«.
»Sie müssen es uns nachsehen, Miss Kate, wenn wir uns in diesem Haus mehr mit Handel als mit Literatur befassen«, bemerkte der Kaufmann; dennoch fühlte er sich genötigt, mit einem leicht vorwurfsvollen Ton hinzuzufügen: »Ich will doch annehmen, John, dass du von Addisons Cato wenigstens gehört hast.«
»Der Handel ist der Schlüssel zur Freiheit«, fügte der Bostoner Anwalt, ihnen zu Hilfe eilend, mit Entschiedenheit hinzu. »Er sorgt für die Ausbreitung von Wohlstand und fördert damit Freiheit und Gleichheit. Das sind Daniel Defoes Worte.«
Endlich schaute John Master mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen auf.
»Von dem Mann, der den Robinson Crusoe geschrieben hat?«
»Eben demselben.«
»Den habe ich gelesen.«
»Na ja«, sagte der Anwalt, »das ist doch immerhin etwas.«
*
Sie unternahmen keine weiteren Versuche in Richtung literarischer Konversation, sondern konzentrierten sich eine Weile auf die drei einladenden Obsttorten, die gerade hereingebracht worden waren. Dennoch war Eliot Master, als er seine Blicke über den Tisch schweifen ließ, nicht unglücklich. Er war mit seiner kleinen Völksrede recht zufrieden gewesen, und er meinte jedes Wort davon so, wie er es gesagt hatte. Sein Cousin hatte ganz richtig erkannt, dass er nicht den ganzen Weg von Boston hierhergekommen wäre, wenn die Angelegenheit ihn nicht leidenschaftlich interessieren würde. Was seinen Cousin Dirk anbelangte, so mochte er zwar ein Gauner sein, aber er war ganz offensichtlich kein Dummkopf. Wenigstens etwas. Über die Gattin des Kaufmanns sah er stillschweigend hinweg. Damit blieb der Junge übrig.
Es war sonnenklar, dachte er, dass der Junge, zwar von blendendem Äußeren, nicht mit großen Geistesgaben gesegnet war. Gut genug für die Gesellschaft von Seeleuten und Schmugglern, aber ansonsten ein Tölpel. Und gänzlich undenkbar, dass seine Kate, die sich bei dem Tischgespräch so wacker geschlagen hatte, den geringsten Gefallen an einem solchen Burschen finden könnte. Beruhigt nahm er sich ein zweites Stück Apfelkuchen.
Deshalb bereitete ihm das kurze Gespräch, mit dem das Essen endete, umso mehr Freude.
Es war fast Zeit zu gehen. Kate hatte ihr Bestes getan, ihren Cousin John zu unterhalten, ihn gefragt, womit er seine Zeit zubrachte, und gehört, dass er sich am liebsten im Hafen, lieber noch auf einem Schiff aufhielt. Durch sanftes Nachbohren hatte sie etwas mehr über die Firma seiner Familie erfahren. Wie andere Kaufleute ihrer Art auch waren die New Yorker Masters in ganz unterschiedlichen Branchen tätig. Außer mehreren Schiffen besaßen sie ein florierendes Ladengeschäft, sie stellten Rum her, wenngleich aus geschmuggelter Melasse, und versicherten sogar andere Handelsschiffe. Er ging sparsam mit den Worten um und sprach leise, aber ein-, zweimal sah er sie direkt an, und als sie in seine Augen blickte, die so blau wie der Himmel waren, kostete es sie die größte Mühe, nicht zu erröten. Ob sie ihm allerdings gefiel, hätte sie nicht sagen können.
Bevor sie die Tafel aufhoben, nahm Dirk Master ihrem Vater das Versprechen ab, dass er sie während seines Aufenthalts in New York noch einmal besuchen würde, und sie war froh darüber, dass er die Einladung höflich annahm.
»Werden Sie dem ganzen Prozess beiwohnen?«, fragte der Kaufmann.
»Vom Anfang bis zum Ende.«
»Und Miss Kate?«, erkundigte sich der Gastgeber.
»Aber natürlich!«, sagte sie enthusiastisch. »Meinem Vater geht es um königliche Tyrannei, doch ich bin gekommen, um die Pressefreiheit zu unterstützen.«
Ihr Vater lächelte.
»Meine Tochter teilt die Meinung des Dichters: ›Fast so wie einen Mann zu töten ist es, ein gutes Buch zu
Weitere Kostenlose Bücher