Im Rausch der Freiheit
beeindruckt. Dann malte er die Szenerie des Grabes, in dem Lazarus vier Tage lag, in aller Anschaulichkeit aus. Sie sollten sich den Leichnam vorstellen, sagte er, nicht einfach tot in seinem Grab, sondern verwesend, stinkend. Sie sollten sich vorstellen, sie seien selbst dort zugegen gewesen. Und wieder schilderte er die Szene so plastisch, dass auch John Master meinte, den Geruch des Todes in der Nase zu spüren.
Doch sie sollten die spirituelle Botschaft der Geschichte bedenken, forderte Whitefield – nicht nur, dass da ein Wunder gewirkt wurde. Denn glich nicht jeder Einzelne von ihnen dem Lazarus? In Sünde stinkend und Gott ganz entfremdet, solange er Christus nicht gestattete, ihn wieder zum Leben zu erwecken? Und da konnte John nicht umhin, an seine eigene liederliche Vergangenheit zu denken und die tiefe, bewegende Wahrheit in den Worten des Predigers zu spüren.
Als Nächstes schalt Whitefield sie – wegen ihrer Sündhaftigkeit und wegen ihrer Trägheit, die sie davon abhielt, sich vom Bösen abzuwenden. Er nannte jeden nur denkbaren Grund, weswegen ein Mensch Gott fernbleiben könnte, und widerlegte ihn, einen nach dem anderen. Und dann, nachdem er seine Zuhörer erschüttert, beschämt und jeder möglichen Ausrede beraubt hatte, setzte er zu seiner Mahnrede an.
»Komm«, rief er mit lauter werdender Stimme, »eile hinfort und wandle mit Gott! Halt ein!«, donnerte er voll inbrünstigen Gefühls. »Halt ein, o Sünder! Kehre um, kehre um, o du Unbekehrter! Säume nicht länger, sage ich, gehe nicht einen Schritt weiter deines jetzigen Weges!« Die Menge hing an seinen Lippen. Er hatte sie fest im Griff. »Lebe wohl, Fleischeslust!«, schrie er. »Ich werde dir nicht weiter folgen! Lebe wohl, weltlicher Stolz! Oh, dass ein solcher Sinn in euch walte! Doch Gott wird Seine mächtige Hand daran anlegen! Ja, das wird Er!« Schließlich steigerte sich seine Stimme zu reiner Ekstase, und überall in der Menge schauten Gesichter empor, manche strahlend, manche mit Tränen in den Augen. »Der Richter steht vor der Tür! Er, der da kommt, wird kommen und wird nicht säumen!« Jetzt, rief er ihnen zu, jetzt sei der Zeitpunkt da, jetzt die Stunde, die zu ihrer Erlösung führen werde. »Und wir alle werden strahlen wie Sterne am Firmament im Reich unseres himmlischen Vaters, für immer und ewig …«
Hätte er sie in diesem Moment aufgefordert, zu ihm an die Plattform zu treten, hätte er ihnen befohlen, auf die Knie zu fallen – die meisten von ihnen hätten es getan.
Und gegen seinen Willen hatte auch John Master Tränen in den Augen; eine gewaltige warme Flut von Rührung strömte durch ihn hindurch. Und er sah zu Mercy hinunter, die neben ihm stand, und erblickte in ihrem Gesicht solch eine strahlende Güte, solch eine ruhige Gewissheit, dass er spürte: Könnte er nur sein ganzes Leben lang mit ihr zusammen sein, würde er eine Liebe und ein Glück und einen Frieden erfahren, wie er sie noch nie zuvor gekannt hatte.
Und da hatte er beschlossen, sie zu heiraten.
*
Seine Eltern hatten ihn angefleht, mit seiner Liebeserklärung zu warten. Lern sie erst besser kennen, rieten sie ihm, bis du dir wirklich sicher bist. Sie hegten den Verdacht, dass die von Whitefields Predigt entfachten Emotionen mit zu diesem Entschluss beigetragen hatten. Daher waren sie froh, als der Evangelist die Stadt kurz darauf verließ, und noch froher, dass er im Frühling darauf nicht wiederkam.
Während dieser Zeit hatte sich John weiter wie gewohnt mit Mercy getroffen.
Aber auch wenn er sich hütete, das entscheidende Wort auszusprechen, konnte ihr im Laufe des Winters nicht entgangen sein, dass seine wachsende Zuneigung mehr als bloße Freundschaft zu sein schien. Für ihn war diese behutsame Annäherung eine ganz neue Erfahrung. Bis dahin waren seine Affären mit Frauen eher unkompliziert gewesen und hatten sich auch meist, so oder so, schnell erledigt. Aber dieses langsame Sichnäherkommen, während dessen er Mercy studierte und von Tag zu Tag neue Eigenschaften an ihr kennen- und schätzen lernte, führte ihn in ein Reich, das er bis dahin niemals betreten hatte. Als das Osterfest bevorstand, war er rettungslos verliebt, und sie musste es erfahren. Nur die allgemeine Unruhe in der Stadt hatte ihn bislang davon abgehalten, sich ihr zu erklären. Die – und noch etwas anderes.
Er war sich nicht sicher, ob seine Zuneigung erwidert wurde.
Mercy Brewster hatte nichts Kokettes an sich; sie schien zu wissen, was sie wollte.
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