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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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es auch damit zu tun, dass Englisch nicht meine Muttersprache ist und ich es anders höre.«
    Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
    »Ich glaube nicht, dass der Mann Amerikaner ist. Schwarz ja, aber kein Afroamerikaner.«
    »Was dann? Aus der Karibik?«
    »Das kann ich nicht sagen. Ich habe noch nicht oft mit Karibianern zu tun gehabt. Er sprach nicht in diesem – wie sagt man? – Singsang, wie ich es von einigen Jamaikanern an der Uni kenne. Er sprach anders.«
    »Können Sie mir ein Beispiel nennen?«, sagte Mercer. »Er hat nicht sehr viel gesagt.«
    »Nein, nein. Na ja, vielleicht ist es auch nicht so wichtig.« Annika rollte nach hinten und wandte den Blick ab, so als habe sie ein schlechtes Gewissen, Mercer die Zeit zu stehlen.
    »Es kommt immer auf die Details an«, sagte er und packte die Armlehne des Rollstuhls. »Jede Einzelheit ist wichtig. Woran erinnern Sie sich?«
    »Vielleicht ist es dumm. Mir ist nur ein einziges Wort aufgefallen.«
    »Welches Wort?«
    Sie sah Mercer an. »›Arsch‹. Als er mir befahl, die Tür zu öffnen, sagte er, ich solle meinen Arsch hineinbewegen.«
    »Reden Sie weiter.«
    Annika versetzte sich zurück in jenen Moment und spielte die Ereignisse noch einmal in Zeitlupe durch. Sie rang mit ihren Gefühlen.
    »Ich höre es ihn sagen, als ich mich mit dem Fuß gegen die Wand gestemmt habe.« Ich musste an den Schuhabdruck an ihrer Tür denken. »Damals dachte ich, dass er aus England sei oder zumindest dort zur Schule gegangen sei.«
    »Warum?«, fragte Mercer.
    »Er sprach das ›r‹ anders aus als ein Amerikaner. Er hat es nicht so verschluckt, wie die Amerikaner es normalerweise tun.« Annika lächelte zum ersten Mal, seit sie Mercer im Krankenhaus begrüßt hatte. »Mein Freund hat einen Sommer in Oxford verbracht. Er spricht ›Arsch‹ genauso aus. Dumm von mir, oder? Ich habe mir zuerst nichts weiter dabei gedacht, aber jedes Mal, wenn ich mich an diese Nacht erinnere, fällt mir ein, dass es mich irritiert hat, wie der Mann dieses Wort ausgesprochen hat.«
    Mercer und ich lachten. »Nichts ist dumm, Annika«, sagte er.
    Noch ein Detail, das die Taskforce bei den Ermittlungen in Betracht ziehen musste. Alle Frauen waren nach der Ausdrucksweise des Täters gefragt worden, aber keine hatte einen Akzent erwähnt. Im Gegensatz zu vielen Vergewaltigern, die ununterbrochen mit ihren Opfern redeten, war der Seidenstrumpfvergewaltiger kein Mann der vielen Worte.
    Wir verabschiedeten uns, und Mercer begleitete Annika und den Pfleger zurück zum Krankentransport. Als er ein paar Minuten später wieder in mein Büro kam, warf er ihre Akte mit entmutigter Miene auf meinen Schreibtisch: »Dann müssen wir wohl wieder von vorn anfangen.«
    »Ich weiß nicht, ob wir auf Grund einer Silbe nach einem Vergewaltiger mit Oxford-Abschluss suchen sollen«, sagte ich.
    »Nein, aber wir müssen alle Opfer noch einmal befragen. Annika ist zu intelligent, als dass wir ihre Beobachtung ignorieren könnten. Unsere Aufgabenliste wird mit jedem Tag länger.«
    »Ihr zwei seid einfach nicht so effizient wie ich.« Mike kam mit einer ausholenden Handbewegung ins Zimmer. »Emily Upshaw. Schwerer Diebstahl.«
    »Gut gemacht«, sagte ich und klatschte in die Hände.
    »Bloomingdale’s. Herrenabteilung. Designerklamotten und Accessoires.« Mike zitierte die Strafanzeige: »Der Unterzeichner beobachtete genannte Angeklagte, als sie drei langärmelige Herrenhemden, einen Alligatorgürtel – deshalb die Einstufung als schwerer Diebstahl – und sechs Paar Socken in einer Einkaufstasche verschwinden ließ und versuchte, das Geschäft zu verlassen, ohne für die Waren zu bezahlen.«
    »Für wen hat sie die Sachen geklaut? Ist der Kerl auch festgenommen worden?«
    »Nicht so schnell, Coop. Scheinbar hat der Feigling vor dem Laden gewartet und Emily die Drecksarbeit machen lassen.«
    »Hat der Cop denn –«
    »Kein Cop. Eine Quadratmarke hat die Festnahme getätigt.« Quadratmarke war Slang für einen privaten Wachmann. »Es deutet nichts auf einen Mitangeklagten hin.«
    »Wurde bei der Verhaftung eine Kaution festgesetzt?«, fragte ich.
    »Fünfhundert Dollar.« Mike blätterte in den Unterlagen. »Hat Emilys Schwester nicht etwas von einem Professor erzählt, der ihr geholfen hat? Der Typ, der die Kaution gestellt hat, heißt Noah Tormey. Hier steht, dass er an der NYU englische Literatur unterrichtet.«
    »Er hat also entweder bezahlt, weil er ihr helfen wollte, oder –«
    »Weil er der

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