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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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der Geruch stellte eine Zumutung dar, und das Wissen um den Schmerz und die Nöte blieb nicht ohne Wirkung auf seine Gedanken. Im Haus herrschte seit Sir Herberts Verhaftung eine reichlich planlose Ordnung. Die Leute waren verwirrt und, was die Frage nach seiner Schuld anbelangte, entschieden parteiisch.
    Er bat darum, Hester zu sprechen, und nachdem er erklärt hatte, wer er war und was er wollte, führte man ihn in einen kleinen, ordentlichen Raum und bat ihn zu warten. Dort stand er gut zwanzig Minuten und wurde zunehmend gereizter, als sich schließlich die Tür öffnete und Hester eintrat.
    Es war über drei Monate her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und obwohl er geglaubt hatte, sie in lebhafter Erinnerung behalten zu haben, wirkte ihre Gegenwart wie ein Schlag. Sie sah müde aus, etwas blaß und hatte einen Blutflecken auf dem schlichten, grauen Kleid. Die Vertrautheit, die sich sofort bei ihm einstellte, war angenehm und beunruhigend zugleich.
    »Guten Tag, Oliver«, sagte sie ziemlich förmlich. »Wie ich höre, haben Sie Sir Herberts Verteidigung übernommen und wollen mich in dieser Angelegenheit sprechen. Ich bezweifle nur, daß ich Ihnen da weiterhelfen kann. Zum Zeitpunkt des Mordes war ich noch nicht hier. Aber ich will natürlich tun, was ich kann.« Ihr Blick war direkt und hatte nichts von der gezierten Sittsamkeit, wie er sie von Frauen gewohnt war.
    In diesem Augenblick war er sich des Umstands, daß sie Prudence Barrymore gekannt und gern gehabt hatte, in hohem Maße bewußt; es war klar, daß ihr Tun in dieser Angelegenheit stark von ihren Gefühlen bestimmt wurde. Was ihm gefiel und zugleich auch wieder nicht. In beruflicher Hinsicht würde es sich als lästig erweisen, schließlich brauchte er ihre ungetrübte Beobachtungsgabe. Persönlich dagegen hielt er jede Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod für eine größere Tragödie als den Tod selbst; zuweilen schien sie ihm sogar anstößiger als viele der Lügen, Ausflüchte und Treuebrüche, die bei so vielen Prozessen an der Tagesordnung waren.
    »Monk sagte mir, Sie kannten Prudence Barrymore«, sagte er ohne Umschweife.
    Ihr Gesicht wurde ernst. »Ja.«
    »Sind Sie mit dem Inhalt der Briefe an ihre Schwester vertraut?«
    »Ja. Monk hat mir davon erzählt.« Ihre Miene zeigte, daß sie auf der Hut und über die Situation nicht eben glücklich war. Lag das, so fragte er sich, an seinem Eindringen in ihre Privatsphäre oder an den Briefen selbst?
    »Waren Sie überrascht?« fragte er.
    Sie stand noch immer vor ihm. Es gab keine Stühle in dem Raum. Augenscheinlich diente er lediglich als Lager und man hatte ihn hier hereingeführt, weil man hier ungestört war.
    »Ja«, sagte sie klipp und klar. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, was sie geschrieben hat, aber es hört sich ganz und gar nicht nach der Frau an, die ich kannte.«
    Er wollte sie nicht beleidigen, aber er mußte die Wahrheit herausfinden.
    »Kannten Sie sie auch unter anderen Umständen als im Krieg?«
    Eine scharfsichtige Frage, deren Bedeutung sie sofort verstand.
    »Nein, hier in England bin ich ihr nie begegnet«, antwortete sie. »Außerdem verließ ich die Krim wegen des Todes meiner Eltern vor ihr und hatte sie seither nicht mehr gesehen. Trotzdem, das sieht der Frau, die ich gekannt habe, nicht ähnlich.« Sie runzelte die Stirn, als sie ihre Gedanken zu ordnen und in Worte zu kleiden versuchte. »Dazu war sie viel zu selbstgenügsam…« Es war zur Hälfte eine Frage, um zu sehen, ob er verstand. »Sie hätte ihr Glück nicht in die Hände anderer gelegt«, unternahm sie einen erneuten Anlauf. »Sie war eine Führernatur, keine Mitläuferin. Drücke ich mich verständlich aus?« Sie beobachtete ihn gespannt, sich der Unzulänglichkeit ihrer Worte bewußt.
    »Nein«, sagte er schlicht und mit dem Anflug eines Lächelns.
    »Heißt das, daß sie unfähig war, sich zu verlieben?«
    Sie zögerte so lange, daß er glaubte, sie wolle nicht antworten. Er wünschte, er hätte das Thema nicht angeschnitten, aber für einen Rückzug war es zu spät. »Hester?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Zur Liebe war sie sicher fähig – aber sich zu verlieben, da bin ich mir nicht so sicher. Letzteres führt in gewissem Sinne zu einem Verlust des Gleichgewichts. Man läßt sich fallen. Und ich bin nicht sicher, ob Prudence dazu fähig war. Und dann scheint mir Sir Herbert nicht eben…« Sie verstummte.
    »Scheint nicht eben was?« wollte er

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